Overdrive im Karussell Berlin

Politische Beobachter werden beim Beobachten immer auch von anderen Beobachtern beobachtet: Die Beschreibung eines Herrschaftsbildes, das zugleich ein Schelmenbild ist und einen Einblick in die Produktion konkurrierender medialer Wirklichkeiten erzählt. Welchen Kanzler hätten Sie gern?

Weil die Fotografin die Inszenierung entkleidet, steht der Herrscher nackt da

von PATRIK SCHWARZ

Wie jedes Gewerbe pflegt auch die Branche der Politikberichterstatter ihre kleinen Peinlichkeiten. Während Gastwirte hinter dem Tresen signierte Polaroidaufnahmen mit Eddie Constantine oder Caterina Valente hängen haben, besitzen nicht wenige Korrespondenten in Berlin Fotos, die sie mit Minister X oder Kanzler Y zeigen. Seit diesem Jahr habe ich auch so eine Aufnahme.

Die Fotos von Gastwirten wie Reportern eint, dass sie in ihrer spezifischen Machart zugleich Botschaften über das Gewerbe als Ganzes enthalten: In der Gastronomie, so kann man aus den oft angeheiterten Gesichtern und den innigen, wenn auch manchmal ungelenken Umarmungen auf den Fotos schließen, rücken die Menschen zusammen.

Zwischen Politikern und Reportern erfolgt die Umgarnung selten durch Umarmung. Die Fotos aus dem Berliner Regierungsviertel sind meist zufällig zustandegekommen, auf Pressekonferenzen oder Empfängen, wenn Korrespondent X gerade besonders nah bei Minister Y stand – und der mitfotografierte Journalist sich später einen Abzug vom Fotografen erbittet. Die Aufnahmen sind damit Ausdruck eines Reigens, in dem die politischen Beobachter beim Beobachten immer auch von anderen Beobachtern beobacht werden. Im Karussell Berlin blicken alle auf alle und also sich selbst.

Einen Schnappschuss vom Karussell, nicht mehr, scheint Julia Faßbender zu bieten mit ihrem Motiv „Gerhard Schröder beim Tagesthemen-Interview vor dem Weißen Haus, Washington, März 2001“. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich ihre Aufnahme jedoch als eine der bemerkenswertesten des ablaufenden Jahres. Die Fotografin schaut von der Seite auf den Vorgang der Berichterstattung selbst – und wirft die Frage auf: Wer sieht was? Im Beziehungsgeflecht von Politikern, Reportern und Zuschauern legt ihre Aufnahme eine Hierarchie des Sehens offen: Für manche Betrachter fällt mehr ab als für andere. Wie viel Einblick am Ende der Bürger erhält, hängt von der inneren Haltung der Berichterstatter ab.

Faßbenders Bild ist zwei Bilder in einem: Da ist zunächst ein Herrschaftsbild, wie in der Tradition alter Königs- oder Kaiserabbildungen. Das Foto ist ausgefüllt von der Gestalt des Bundeskanzlers und jener Weite des Raumes vor ihm, wie man sie von Napoleon auf dem Feldherrenhügel kennt und die seit jeher für eine Umsetzung politischen Herrschaftsanspruchs mit bildnerischen Mitteln eingesetzt wird. Wie auf einem Ölgemälde ist Schröders Gesicht überdies von einem unerklärlichen Licht erleuchtet, während die Hilfsfiguren der Herrschaftsinszenierung am Rande hingehuscht ins Dunkle getaucht sind: der Reporter mit Notizblock an der Bordsteinkante, der Schirmhalter, dessen Gesicht verdeckt ist, der Fahrer im Hintergrund.

Dass Gerhard Schröder auf dem Foto trotzdem so gar nicht zu napoleonischer Machtentfaltung auffahren kann, liegt an dem zweiten Bild im Bild. Es ist ein Schelmenbild, ein subversiver Gegenentwurf und überlagert die zuerst beschriebene Inszenierung, sodass Schröders Herrschergestus nur noch komisch wirkt: Die Fotografin zeigt des Kanzlers Füße auf einem winzigen Brettchen im Schlamm, während sich über seinem Kopf ein abenteuerliches Getürm von Regenschirmen in den Himmel erhebt. Insbesondere die Wirkung der Regenschirme stellt Schröders Autorität infrage, weil sich unsere Herrschaftsbilder seit den Zeiten der klassischen Ölgemälde gewandelt haben – und unsere Seherwartungen dazu: Während jahrhundertelang zu den Herrschaftsinsignien der äußere Prunk gehörte, passt in der Demokratie der Baldachin nur noch zum Faschingsprinzen.

Weil die Fotografin die Inszenierung entkleidet, steht der Herrscher nackt da. Und so nimmt selbst das Erhabene unvermutet einen lächerlichen Zug an: Des Kanzlers Blick erscheint nicht länger napoleonisch in die Ferne gerichtet, sondern unmotiviert ins Nichts. Die Leere vor seinem Bauch richtet sich gegen ihn und verstärkt das Moment des Komischen.

Indem Faßbenders Aufnahme komisch ist, ist sie auch politisch. Indem die Fotografin die Vorder- wie die Hinterbühne der Inszenierung zeigt, erlaubt sie einen Einblick in die Produktion medialer Wirklichkeiten. So täuscht sich, wer in der Szene im Garten des Weißen Hauses nur einen Berichterstatter ausmacht. Tatsächlich sind es mindestens drei, die sich in diesem Moment dem Bundeskanzler zuwenden – in abgestufter Sichtbarkeit: Der Zeitungsreporter ist auf dem Bild zu sehen; der „Tagesthemen“-Moderator, der den Kanzler per Satellitenschaltung interviewt, ist über den Widerschein der Kameralampe in Schröders Gesicht präsent; und von der Anwesenheit der Fotografin selbst zeugt ihr Produkt, das Foto. Die Aufnahme erzählt also die Geschichte konkurriender Medien – und misst sie daran, wer seinem Publikum welchen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigt.

Am wenigsten gibt die Fernsehkamera preis – sie transportiert das Herrscherbild, mehr noch, sie inszeniert es. Das Fernsehen führt die Regie nicht nur in der eigenen Sendung, sondern – wie das Foto verrät – auch über die Wirklichkeit. Mit seinem Brettchen am Boden gibt es vor, welche Position der Kanzler einzunehmen hat, mit seiner Kameraeinstellung bestimmt es, wer zur Seite treten muss (der Leibwächter) und wer im Bild ist (der Kanzler allein). Das Fernsehen ist die Quelle des geheimnisvollen Lichts, seine Scheinwerfer sind es, die den Kanzler zum Herrscher machen – er steht im Licht, die Welt und die Menschen um ihn sind in Dunkel getaucht. Der Kontrast zur Fotografin könnte größer kaum sein. Zwischen Napoleon und Faschingsprinz bietet sie dem Betrachter die Wahl: Welchen Kanzler hätten Sie gern?

Prekär ist die Stellung des Zeitungsreporters. Das Bild zeigt den Beobachter als Zwischenfigur – und erzählt von der Zwiespältigkeit eines Berufsstandes. Wohl sieht man ihn mit Gesicht, doch im Zwielicht. Wohl steht er im Vordergrund, doch an der Peripherie. Das Tableau stellt ihn somit zwischen den Herrscher und den Bürger – und gibt dem Betrachter das Rätsel auf, welchem Herrn der Reporter dient: dem Mächtigen, in dessen Bannkreis er sich aufhält, oder den Lesern, für die er Notizen in seinem Block verfertigt?

Wohl sieht er alles, doch welche inneren Scheuklappen, die keine Fotografie einfangen kann, trägt er mit sich herum? Er kann den Kanzler als Staatsmann oder Narr porträtieren. Welchen Standpunkt bezieht er – und welcher ist angemessen? Seiner ambivalenten Rolle entspricht im Bild die Stellung auf der Kippe: Er steht im Abglanz der Macht – am Rinnstein im Regen.

Der Betrachter kann sich sein eigenes Bild machen: Sucht der Reporter den Punkt maximaler Annäherung an den Herrscher (ehe der Leibwächter hinter dem Schirm einschreitet) – oder geht er auf größtmöglichen Abstand (gerade dass er nicht gegen die Limousine in seinem Rücken stürzt)? Die Füße auf der Bordsteinkante legen nahe, dass er eine Gratwanderung bewältigen muss zwischen der Nähe zur Macht und der kritischen Distanz. Sicher ist nur: Er ist der Mann ohne Regenschirm.

Die Politikberichterstattung lebt von einer Rhetorik des Revelatorischen: Dauernd wird enthüllt (oder doch zumindest der Anspruch darauf erhoben). Die Fotografin Faßbender offenbart den Pakt von Politik und Fernsehen, die sich gemeinsam dem Handwerk der Inszenierung verschrieben haben. Das Foto verdeutlicht zugleich, dass das Fernsehen nicht Opfer seiner technischen Beschränkungen ist, sondern allenfalls des politischen Willens seiner Macher. Alles, was die Fotografin einfängt, könnte auch das Fernsehen einfangen. Die Fotokamera operiert mit denselben Stilmitteln von Beleuchtung und Bildausschnitt wie die Fernsehkamera – aber im Fall Faßbender mit entgegengesetztem Effekt: Gegen die visuelle Huldigung des Herrschers setzt sie einen rebellischen Blick. Sie ironisiert, indem sie den Blick darauf lenkt, wie viel Aufwand nötig ist, um den Eindruck zu erwecken, es habe keines Aufwandes bedurft. Sie zeigt, wie viel Künstlichkeit es braucht, einen Politiker natürlich aussehen zu lassen.

Zum Wahljahr 2002 passt es, Faßbenders Aufnahme als Kommentar zu Gerhard Schröder, dem Medienkanzler, zu lesen. In diesem Sinne ist sie eine ironische Verbeugung vor einem Mann, der nicht Wind noch Wetter scheut, um im Fernsehen eine gute Figur zu machen.

Doch im Kern zeigt die Aufnahme, wie Wirklichkeit gemacht wird, und entmachtet damit den Kanzler. Nicht er ist der Herrscher der Bilder, sondern jene Macht, für die sich ein Bundeskanzler auf ein Brettchen in den Regen stellt.

Patrik Schwarz ist Parlamentsberichterstatter der taz