Bürgerlicher und proletarischer Amok

Bis zum „mobbing end“

Kürzlich bekam mein Freund, der Bauhilfsarbeiter Ludwig, beim Betonbohren einen elektrischen Schlag und fiel vom Gerüst – zwei Stockwerke tief in den Garten. Als er wieder zu sich kam, fragte ihn der Chef von oben herab als Erstes, ob die Bohrmaschine heil geblieben wäre. Ludwig schwor Rache. Erst recht, nachdem er erfahren hatte, dass die gemütlichen Einsatzbesprechungen morgens bei einer Tasse Kaffee nicht als Arbeitszeit vergütet würden; und nachdem ihm dort auch noch der Chef plötzlich verkündet hatte, er solle für vier Wochen unbezahlten Urlaub nehmen.

Er ging in die nächste Kneipe und kam erst einmal ins Grübeln über diese ganzen Ungerechtigkeiten. Dann schnappte er sich eine Zeitung. Auf der letzten Seite las er, dass ein amerikanischer Arbeiter in Tuscon, nachdem man ihn entlassen hatte, nach Hause gegangen war, sein Gewehr geholt und vier seiner Arbeitskollegen sowie einen Abteilungsleiter erschossen hatte. Ludwig überlegte, woher er ein Gewehr kriegen könnte – auf die Schnelle. Ihm fiel jedoch kein Waffenbesitzer in seinem Freundeskreis ein. Er las weiter und stieß auf einen Artikel über „Trittbrettfahrer“: Zwei Männer in Ingolstadt hatte man zu sechs Monaten Gefängnis verknackt, weil sie einen Brief mit vermeintlichem Anthraxpulver an den Juniorchef einer Möbelfirma, bei der sie angestellt waren, geschickt hatten. Das zynische Begleitschreiben hatte ihnen die Lohnbuchhalterin getippt, die mit einer Geldbuße davonkam. Auch sie hatte inzwischen ihren Job verloren.

Ludwig überlegte kurz, ob er seinem Chef einen dicken Brief mit Scheiße schicken sollte – und malte sich aus, wie der ihn öffnen und sein Büro stinken würde. Die Chefsekretärin müsste das Kotzen kriegen! Ludwig hatte schon seit Monaten keine Zeitung mehr gelesen, außer mal eine Bild oder B. Z. von einem Arbeitskollegen, in den Pausen oder beim Scheißen. Jetzt musste er sich eingestehen, dass er da vielleicht was verpasst hatte: Die Intelligenzblätter schienen voll mit Racheaktionen erboster Menschen zu sein. Der reinste Katalog für individuellen Widerstand.

Auf die Idee, zur Bauarbeitergewerkschaft zu gehen, kam er gar nicht. Stattdessen blätterte er die Zeitung weiter durch. Auf der Medienseite fand er einen langen Artikel über Massenentlassungen bei kalifornischen Zeitungen: Bei einer besonders renommierten wurde den langjährigen Mitarbeitern sogar fristlos gekündigt – und der Haussicherheitsdienst begleitete sie sofort nach draußen. Das hätte viele Journalisten dort besonders erbost, schrieb die hiesige Zeitung. Ludwig erinnerte sich daraufhin an einen Freund und Journalisten aus alten Kampftagen: an mich.

Sofort nahm er sein Handy raus, guckte nach, ob meine taz-Nummer programmiert war, und rief mich an. Die Geschichte aus Kalifornien kannte ich bereits. Dafür wusste ich jedoch eine noch haarsträubendere Nachricht aus Hamburg: Dort stellt der Besitzer eines Geschäfts regelmäßig Bettler ein, die dafür von seinen Mitarbeitern bezahlt werden – da die Bettler ihnen ja die Arbeit abnähmen. Der Besitzer wurde dafür aber wegen seiner sozialen Idee in der Lokalzeitung gelobt.

„Warum zahlen die Idioten denn den Bettlern was? Schön blöd!“, meinte Ludwig. „Was würdest du denn machen?“, fragte ich zurück. „Darüber wollte ich ja gerade mit dir reden“, erwiderte er und erzählte mir seine ganze Leidensgeschichte mit seinem Chef bis zur momentanen Zeitungslektüre. Als er fertig war, sagte ich: „Du bist nicht der Einzige, sogar die Titelgeschichte eines Wirtschaftsmagazins befasst sich bereits mit der bedrohlich gewachsenen Willkürmacht der Chefs beziehungsweise Manager – und damit, was der kleine Angestellte dagegen tun kann. Der in Amerika immer beliebter werdende Amoklauf von Arbeitslosen an ihrem letzten Arbeitsplatz wird bereits als normales mobbing end angesehen. Ich habe eine ganze Mappe von Zeitungsausschnitten darüber. Den Rekord hält übrigens ein Buchhalter aus St. Louis, der mit zwei Maschinenpistolen gleichzeitig seine ganze frühere Firma auslöschte. 56 Mitarbeiter. Komischerweise ließ er den Chef am Leben.“

„Das verstehe ich nicht!“ Ludwig ächzte fast. – „Das ist der amerikanische Sonderweg bei den Arbeitskämpfen“, vermutete ich ihm gegenüber. „Der hilft uns aber jetzt nicht weiter“, entgegnete er leicht gereizt, „hier geht es nämlich gerade um den Chef. Was hältst du davon, mal was über seine saubere Firma zu schreiben? Er hat beispielsweise schon zwei Mal eine türkische Kolonne schwarzbeschäftigt – und sie anschließend nicht bezahlt, also ein Mal schon, aber mit einem ungedeckten Scheck. Und die Türken haben ihn zwar eine Zeit lang verfolgt, aber sich nicht getraut, zur Polizei zu gehen, wegen der Schwarzarbeit. – Der hat deren Angst knallhart ausgenutzt.“

Klar könnte man über ihn mal eine „Berliner Ökonomie“ schreiben. „Aber“, gab ich zu bedenken, „wenn wir da wirklich was Übles finden, dann wird die Firma dichtgemacht. Und deine Kollegen verlieren ihre Arbeitsplätze. Im Endeffekt kommt dabei dasselbe raus wie bei dem Buchhalter in St. Louis: Nur der Chef überlebt . . .“ – „Mit seinem BMW metallic!“, stöhnte Mazda-Fahrer Ludwig – und kam dann noch einmal auf Amerika zu sprechen: „Hast du in deiner Mappe auch Amokläufe von Schülern gesammelt, die ihre Mitschüler und Lehrer abgeknallt haben?“ – „Ja, wieso?“, fragte ich ihn. – „Du weißt doch, dass ich einen Sohn habe. Und der hat einen Klassenlehrer, der ihnen laufend sagt: ‚Wir müssen alle noch viel amerikanischer werden.‘ Neulich hat mein Sohn, als er nach Hause kam, schon gemeint: ‚Den bringe ich noch mal um.‘ Bisher hatte ich dem keine Bedeutung beigemessen . . .“

Mir fiel dazu ein, dass man in Amerika für diese sich häufenden Fälle bereits eine neue Therapie erfunden hat, die sich anger management nennt. Worauf Ludwig mir entgegnete: „Was denkst du, weswegen ich die ganze Zeit hier mit dir ein teures Handygespräch führe? Ich bin schon mittendrin – in der Ärgergeschäftsführung.“

HELMUT HÖGE