Zum Denken in die Kammer

Mit seiner Bochumer Inszenierung von Becketts „Godot“ belegt Matthias Hartmann ein weiteres Mal sein Talent zu gefallen – und Harald Schmidt beweist, dass er ohne die Aura einer Fernsehshow auf der Theaterbühne komisch monologisieren kann

Die Schmidt-Modelle stammen nicht von Shakespeare oder Strauß, sondern sie gehören ganz und garzu Harald Schmidt

von MORTEN KANTSTEINER

Ein Star kommt niemals allein. Das zeichnet ihn gerade aus: Jedes Mal, wenn ein Star-Körper sich irgendwo blicken lässt, folgt sein Image auf dem Fuß. Und auch das muss man sich nicht als eine einsame Figur vorstellen, sondern eher als einen Schwarm von Gestalten. So verhält es sich etwa bei Harald Schmidt: Wenn er eine Bühne betritt, wird er von einer Kohorte von Schmidt-Bedeutungen umringt.

Da ist etwa – noch unverbraucht und besonders präsent – der Hochkultur-Schmidt, der Doppelnullagent des Anspruchs, der in seiner Late-Night-Show Claus Peymann spielt und einem ganzen Orchester den Takt zu ungarischen Tänzen schlägt. Doch dieser Schmidt-Persona schaut noch immer der Zotenerzähler über den Rücken. Und gleich daneben konkurriert der Fernsehkritiker – „80 Prozent sind Müll“ – mit dem Repräsentanten von Sat.1, der uns bei „ihrem Lieblingssender“ willkommen heißt. Der Snob aus der Werbung blickt mit hochgezogener Augenbraue auf den bekennenden Mittelklasseabkömmling. Der Zyniker amüsiert sich über den christlich geprägten Familienvater.

All diese Gestalten sind quasi die persönlichen Referenten des Harald Schmidt: die Inhalte, auf die seine hochgewachsene Erscheinung verweist. Er braucht sie, er braucht ihre Widersprüche. Er sendet zwar nicht für die ganz große Samstagabendgemeinde, aber immerhin für eine Million Menschen und entsprechend viele Vorlieben. Als Fernsehstar kann er nur funktionieren, wenn er mehrdeutig ist. Seine besondere Leistung besteht darin, die widersprüchlichen Versionen seiner selbst zu einem souveränen Bild zusammenzufügen, dem man die Zerissenheit gar nicht anmerkt. Doch was im Fernsehen den Erfolg sichert, schafft im Theater nur Scherereien. Wenn Harald Schmidt in der Bochumer Inszenierung von „Warten auf Godot“ die Bühne betritt, beginnen seine Referenten bald zu stören. Sie stehlen sich herein, stehen unschlüssig herum und blicken misstrauisch auf einen Neuling: Becketts Lucky, den Schmidt in diesem Fall verkörpern soll. Wenn Schmidt hereinschlurft, in schäbigen Klamotten und an der langen Leine von Fritz Schediwy (Pozzo), dann rechnet man jeden Moment damit, dass der Zyniker-Schmidt hervortritt und einen Witz über Luckys schlechte Haltung reißt.

Die Schmidt-Gestalten lassen sich nicht so leicht verscheuchen. Ein Schauspielerstar kann seine Rollen zu einem gewissen Grade wieder loswerden; sie sind eindeutig als Fiktionen ausgewiesen. Der Entertainer hingegen ist seinen Bedeutungen ausgeliefert. Die Schmidt-Modelle stammen nicht von Shakespeare oder Strauß, sondern sie gehören ganz und gar zu Harald Schmidt, sie hören allein auf seinen Namen. Und das weiß er: „Bei mir bleibt eigentlich immer nur Harald Schmidt oder die Kunstfigur Harald Schmidt sichtbar“, hat er vergangenes Jahr in einem Interview gesagt.

Das soll nicht heißen, er könne nicht spielen. Nein, er macht seinen Job in Bochum gut. Er hält sich bescheiden zurück, solange die anderen das Wort haben, sein Lucky steht nur gebeugt da, mit vor Erschöpfung leicht geöffnetem Mund. Wenn jemand an seinem Halsband zerrt, verzieht er kurz den Mund. Geduldig wartet Schmidt seinen Monolog ab: Luckys unzusammenhängende, sinnleere Karikatur eines gelehrten Räsonnements. Wenn dann Pozzos Befehl kommt – „Denke!!“ –, zeigt Schmidt ein weiteres Mal, dass er komisches Monologisieren sehr wohl beherrscht.

Mit wenigen Mitteln kommt er aus: Wenn im Text „Tennis“ steht – und das steht da oft –, hebt er die Stimme. Bei „Man weiß nicht, warum“ betont er das „weiß“ und führt immer dieselbe Geste aus: Die Hände geschlossen, führt er vor dem Körper die Arme zusammen, bis sie sich schneiden. Das reicht, das hat das Publikum bald verstanden, so dass Schmidt mit den Erwartungen spielen kann. Der Szenenapplaus ist gesichert.

All das ändert nichts daran, dass so ein Fernsehstar-Körper ein ganz besonderes Zeichen ist. Wohl oder übel bedeutet er mehr, als da eigentlich auf der Bühne zu sehen ist. Man hätte den semiotischen Überschuss nutzen können. Wenn man Harald Schmidt entschieden als Harald Schmidt auf die Bühne geschickt hätte. Wenn das ganze Image hätte mitspielen dürfen. Wenn man behauptet hätte: Lucky ist Harald Schmidt – und nicht etwa umgekehrt. Dieser Gedanke soll angeblich am Ursprung der außergewöhnlichen Besetzung gestanden haben. Der Gedanke, dass der Knecht an der langen Leine, das Geschöpf, das auf Befehl tanzt und denkt, eine passende Beschreibung des Entertainers sei.

Auf der Bühne allerdings ist davon nichts zu sehen. Matthias Hartmann hat keinerlei Anstrengungen gemacht, das Verhältnis des Textes zur Gegenwart zu untersuchen – geschweige denn zu dem speziellen Phänomen des Fernsehstars. Der einzige Ehrgeiz der Inszenierung besteht darin, den Text auszustellen. Das Bühnenbild von Karl-Ernst Herrmann lässt keinen Zweifel: Die Blicke des Publikums leitet es durch einen monumentalen blattgoldenen Bilderrahmen auf eine edle weiße Spielfläche. Da soll sich wohl, rein und unschuldig, das Stück abzeichnen.

Da aber das Stück von selbst gar nichts macht und der Regisseur sich zurückhält, erscheint nur eins: Komödie. Denn die beherrschen Ernst Stötzner (Estragon) und Michael Maertens (Wladimir), die den Abend tragen, ganz hervorragend. Die Pointen, die Beckett aus der kindlichen Trägheit seiner Figuren entstehen lässt, sind nicht mehr die frischesten, aber das macht den beiden Darstellern überhaupt nichts. Ihr Timing ist perfekt, ihre Tonlagen sind vielfältig, sie verstehen das Publikum bei Laune zu halten. Nur gegen Ende werden sie ruhiger, damit man meint, es komme doch noch eine Botschaft.

Ein „Godot“ von beträchtlichem Unterhaltungswert. Und dazu noch mit der Anziehungskraft des Stargasts, der sich anlässlich der Premiere am Sonntag auch mehrere Mitglieder der Landesregierung nicht entziehen konnten. Über die Auslastung muss sich das Schauspielhaus keine Sorgen machen. Wobei die Bochumer mit der Nachfrage ohnehin kein Problem haben. In der vergangenen Spielzeit, Hartmanns erster in Bochum, kamen 40.000 Zuschauer mehr als im Jahr zuvor. Der Intendant hat ein klassisches, bürgerliches Theaterpublikum für das Haus zurückgewonnen, um das sich sein Vorgänger Leander Haußmann nicht sonderlich gekümmert hatte. Und dabei hat Matthias Hartmann schon vor seinem „Godot“ auf populäre Zugpferde gesetzt. Einen Star wie Schmidt konnte er in den vergangenen eineinhalb Jahren nicht bieten, aber zum Beispiel eröffnete er seine Intendanz mit einem Alleingang von Michael Maertens. In „Die Eröffnung“ von Peter Turrini konnte der Schauspieler seine ganze Virtuosität entfalten, die Zuschauer so lange mit seiner Wendigkeit einwickeln, bis sie nur noch „Großes Theater!“ stammeln konnten. Auf Plakaten war Maertens dabei zu sehen, wie er sich selbst zum Theatermonarchen krönt.

In dieser Saison ist dort in ganz ähnlicher Manier Armin Rohde abgebildet, auch er mit Krone. Es ist die Richards des Dritten, den Rohde ebenfalls mit dem unbedingten Wille zum Startum spielt. Die zweite Hälfte der Inszenierung von Karin Beier ist praktisch zu einem Monolog geworden: Bahn frei für den Betörer. Die Karten sind begehrt. Matthias Hartmann gelingt es zu gefallen, nicht nur als Theaterleiter, sondern auch als Regisseur. Seine Bochumer Inszenierungen – die „Pancomedia“ von Strauß, Kleists „Familie Schroffenstein“, die Schiller-Übersetzung „Der Parasit“, jetzt der „Godot“ – zeichnen sich immer wieder durch glatte, sehr gepflegte Oberflächen aus. Die Lichter sind exquisit gesetzt, Gänge verdichten sich mitunter zu eleganten Choreografien. Man bekommt immer etwas geboten. Aber keinerlei Hinweis, warum der gewählte Text relevant sein könnte. Einmal, als ein Zuschauer bei einer Diskussion eine gewisse Harmlosigkeit rügte, ließ Hartmann die anderen abstimmen: Ihnen habe es doch gefallen, oder?

In solchen Momenten möchte man die augenblickliche Umwandlung des Schauspielhauses in ein Privattheater fordern. Aber zum Glück hat die Arbeit der Bochumer noch eine andere Seite. Neben den sicheren Nummern sorgt Matthias Hartmann für eine stete Folge von Projekten mit offenem Ausgang. In eineinhalb Jahren sind beinahe ein Dutzend Ur- und Erstaufführungen zusammengekommen. Darunter eine Produktion mit einem so schwierigen Namen wie „Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde“, eine Arbeit von Mitgliedern der freien Schweizer Truppe „400asa“. Das Publikum kam mit der versponnenen Theatererkundung der Schweizer nicht klar, trotzdem sollen sowohl der Autor, Lukas Bärfuss, als auch der Regisseur, Samuel Schwarz, wieder in Bochum arbeiten. Mehrheitsfähigkeit ist doch nicht der einzige Standard.

Auch Hartmanns jüngste Inszenierung vor dem „Godot“ war keine Gefälligkeitsarbeit: Analytisch und doch sinnlich sezierte er die Wirklichkeitsebenen in Albert Ostermaiers „Es ist Zeit. Abriss“. Aber es ist wohl kein Zufall, dass der Hausherr für diese Produktion die Kammerspiele wählte. Dahinter scheint in Bochum Prinzip zu stecken: Lachen und genießen darf man in der Öffentlichkeit des Großen Hauses. Zum Denken muss man in die Kammer. Man weiß nicht, warum.