Text als Energiespeicher

Auf den Spuren von Friedrich Kittler und Niklas Luhmann: Die „Mediologie“-Bände des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs „Medien und Kulturelle Kommunikation“ dokumentieren, wie sich die Literaturwissenschaft an die Mediengesellschaft annähert. Ein Einblick in aktuelle Ansätze

Im Fokus steht dieWechselbeziehung von Kultur- und Mediengeschichte

von SEBASTIAN HANDKE

Der Hype ist vorbei, nun geht es ans Konsolidieren – und zwar auf bescheidenem Niveau. Was für eine ehemals neue Wirtschaft gilt, scheint sich ähnlich auch in der Medientheorie zu ereignen. Auf Spekulation im großen Maßstab, sei es Business-Plan, sei es Habilitation, hat niemand mehr so richtig Lust.

Für die medientheoretische Diskussion hatten sich hierzulande seit Mitte der Achtzigerjahre immer mehr die großen Entwürfe Friedrich Kittlers und Niklas Luhmanns als prägend erwiesen. Beide Ansätze pflegen ihren eigenen „Antihumanismus“ und machen einen weiten Bogen um unsicheres und ungeliebtes Terrain: Kultur, Bedeutung, Individuum – daran wollen sich Kittler wie Luhmann nicht die Finger schmutzig machen. Für den ersteren sind es die technischen Standards, welche bestimmen, „was Mensch heißt“, in Luhmanns Welt kommen Menschen in der Gesellschaft gar nicht vor – sie besteht „nur“ aus Kommunikationen. Alles in allem gab man sich alle Mühe, den ohnehin schwächelnden traditionellen Geisteswissenschaften – als Ideengeschichte verstanden – eine schwere Erschütterung nach der anderen zuzufügen.

Kittlers hardwareverliebter Handstreich machte darauf aufmerksam, wie sehr kulturelle Erscheinungsformen an die materielle Verfasstheit und Formationen der Medien gebunden sind: „Aufschreibesysteme“ taufte der Literaturwissenschaftler Kittler dieses „Netzwerk von Techniken und Institutionen“.

Was allerdings fehlte, waren belastbare Verknüpfungspunkte zwischen Kultur- und Mediengeschichte, die einen Bezug zur (Er-)Lebenswelt des Menschen herstellen können. Da war man mit Kittlers Postulat einer einseitigen Abhängigkeit von Technizität und mit Luhmanns nicht immer hilfreichem Abstraktionsgrad ein wenig in die Sackgasse geraten. Inzwischen probt man den Strategiewechsel. Die Aufmerksamkeit fällt nun, auch in Weiterentwicklung von Kittler und Luhmann, auf die Wechselbeziehung von kultureller Evolution und individueller Erlebnissphäre; auf mediale Praktiken, Gedächtnis- und Kulturtechniken; auf Dispositive, die nicht reduzierbar sind auf militärisch-technische Intelligenz allein.

„Kultur“ ist sicher eine enorm inflationsanfällige Formel. Sie ist dennoch zu einer wissenschaftlichen Leitkategorie geworden. Wenn man dann noch Arbeitsgruppen unter dem Titel „Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg ‚Medien und Kulturelle Kommunikation‘ “ zusammenstellt, wie der Literaturwissenschaftler Wilhelm Voßkamp, handelt man sich ganz schön Ärger ein. Denn da sind sie versammelt, die schlimmen Wörter „Medien“, „Kultur“, „Kommunikation“: ein undurchsichtiges Begriffskonglomerat, in dem der eine Begriff gerne mal zum Synonym des anderen wird, sorgfältige Bestimmungsversuche meist aber unterbleiben. „Nichts scheint dringender, aber nichts wäre auch fruchtloser, als definieren zu wollen, was Medien eigentlich sind“, glauben Bernhard Dotzler, Erhard Schüttpelz und Georg Stanitzek in „Die Adresse des Mediums“, daher seien „pointierte Befunde“ effizienter als „Allgemeinheiten“. Es ist quasi die Arbeitsanweisung des ganzen Projektes, und in der nun erscheinenden Reihe „Mediologie“, deren zweiter Band „die Adresse des Mediums“ ist, kann man tatsächlich viele solcher Befunde finden und zur selben Zeit einen Überblick über die ungeheuer vielfältigen Forschungsansätze bekommen.

Die „Mediologie“-Publikationen dokumentierten also die Arbeit des Kollegs, eines „Sonderforschungsbereichs“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Für den ersten Band, „Schnittstellen“, durfte sich zunächst aber auch akademische Prominenz ins Gästebuch eintragen. Paradigmatisch die Beiträge von Wolfgang Ernst und Georg Stanitzek. Der Siegener Literaturwissenschaftler Stanitzek liefert zwei ungemein lesenwerte Beiträge, insbesondere die „Kriterien des literaturwissenschaftlichen Diskurses über Medien“ sind federleichte Übungen in Diskursanalytik. Doch seine für eine neue Medienphilologie vorgeschlagene Koppelung von „individueller Lektüre“ und „ästhetischer Autorität“ ist nichts anderes als die Restituierung alter literaturwissenschaftlicher Kanonbildung auf dem Felde des Fernsehens: Die „guten“ Werke soll man loben (hier: Godard), statt das Medium als Ganzes in Verruf zu bringen. Eine ehrenwerte Empfehlung für Feuilletondebatten, im wissenschaftlichen Diskurs muss sie nicht mehr ernsthaft in Betracht gezogen werden.

Wolfgang Ernsts „Medien@rchäologie“ liest sich wie eine Antwort. Sein Beitrag soll laut Titel eine „Provokation der Mediengeschichte“ sein und ist natürlich das genaue Gegenteil davon: die Absage an Hermeneutik und „warme historische Imagination“ zu Gunsten von Datenverarbeitung und Schaltplänen, dem „Text als Energiespeicher“. All das hat Kittler schon vor fast zwanzig Jahren formuliert und wesentlich klüger noch dazu. Mittlerweile gab es genug eilfertige Überbietungsversuche (Norbert Bolz: „Der Mensch rastet in Schaltkreise ein“), sie lassen antihermeneutische Impulse im Jahre 2001 ein wenig bemüht erscheinen.

Die Literaturwissenschaft also, wie sie unter Verwendung leicht angestaubter Feindbilder mit sich selbst beschäftigt ist: weiter auf Kittlers Pfaden oder zurück zum alten „new criticism“? Doch „die Zukunft des Wissens ist bildhaft“, so steht es zumindest auf den Buchrücken der Reihe zu lesen. Das Selbstbewusstsein, mit dem die Literaturwissenschaft, das Terrain „Medien“ für sich reklamiert, hängt sicher mit der ungeheuren Beliebtheit der Metapher „Kultur als Text“ zusammen, die im Rahmen des so genannten „linguistic turn“ den alten Geisteswissenschaften einen Hauch harter Wissenschaftlichkeit zu versprechen schien. Nun werden abermals Wenden ausgemacht: „cultural turn“, „iconic turn“ und vor allem, so Erika Fischer-Lichte, der „performative turn“, welcher Handlungen, Austauschprozesse und Strukturveränderungen in den Blick bekommt. Die neuen Leitwissenschaften müssten also folgerichtig Ethnologie und Theaterwissenschaft sein, so Fischer-Lichte. Passend dazu schreibt der Mediävist Horst Wenzel ausführlich über den Körper des Königs als Medium gesellschaftlicher Selbstdeutung und Gertrud Koch über das Sehen als Akt („Netzhautsex“). Die Grande Dame der historischen Anthropologie, Aleida Assmann, skizziert den Paradigmenwechsel digitaler Speicherung. Mit Jan Assmann – in der Community werden sie ehrfurchtsvoll „die Assmanns“ genannt – hat sie dem Konzept des „kulturellen Gedächtnisses“ hierzulande zu Prominenz verholfen.

Hier setzt auch der nunmehr erschienene dritte Band an. In „Medien der Präsenz“ geht es um den „Medienwechsel von Schrift zu Bild“: die Neuorganisation des Sehens, welche eine kulturelle Entwicklung bereits des 19. Jahrhunderts zu sein scheint. Insbesondere Matthias Bickenbachs Text über das „Dispositiv des Fotoalbums“ birgt lesenwerte Einsichten in den Paradigmenwechsel kultureller Erinnerung: die Reorganisation der Erinnerung im neuen Modell des „Albums“ als eine frühe Form des Random Access Memory, ein „präsentisches“, dynamisiertes Gedächtnis, ähnlich wie auch das Pariser Wachsmuseum Musée Grévin, wie Gudrun Gersmann zeigt. Auch die Kunstwissenschaft kommt allmählich zu ihrem Recht. Oliver Grau hat im auslaufenden Jahr seine Studie über „Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart“ veröffentlicht. In seinem Beitrag für „Medien der Präsenz“ beschreibt er die Immersionstechniken eines vergessenen Massenmediums: die Eröffnung des Sedanpanoramas auf dem Berliner Alexanderplatz war ein nationales Ereignis. Zum Zwecke nationaler Identitätsstiftung sollte der Betrachter in die Mitte der Ereignisse der Schlacht von Sedan versetzt werden. Für die fast perfekte Illusion wurden auch die neuen wahrnehmungsphysiologischen Erkenntnisse des Hermann von Helmholtz genutzt – Virtual Reality, 1883.

Für die nächsten „Mediologie“-Bände wünscht man sich noch weniger Philologenkram und literaturwissenschaftliche Nabelschau und mehr tatsächlich transdisziplinäre Kulturwissenschaft, wie sie übrigens, das sei hier auch angemerkt, in der jungen deutschen Einzeldisziplin „Kulturwissenschaft“ schon ganz selbstverständlich praktiziert wird. Sie scheint am ehesten in der Lage zu sein, die Gegensätze von „Mediendeterminismus“ und „geistesgeschichtlicher Deutung“ aufzulösen. Was außerdem noch dringend fehlt, ist ein Musikwissenschaftler.

In „Schnittstellen“ hat sich übrigens einer nicht an die Vorgabe gehalten, Grundsatzfragen zu vertagen. Luhmann-Nachfolger Dirk Baecker gefällt sich nicht in vordergründiger Bescheidenheit und gibt sich gerade mal zehn Seiten für die Skizze einer Kulturtheorie, die – unter der waghalsigen Verbindung von Systemtheorie und Lacans Begriffen des Imaginären und Realen – eine strenge Differenzierung der Begriffe „Kultur“ und „Kommunikation“ versucht. Auf die Ausarbeitung dieses Entwurfs darf man gespannt sein.

Die „Mediologie“-Bände 1 bis 3: Alle DuMont Verlag, Köln 2001, 20 €. Oliver Grau: „Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien“. Dietrich Reimer Verlag, 2001, 302 S., 20 €