Schwarzer Familienroman

Schöne Schuldgefühle beim Zuschauen: „Die Sopranos“. David Chase, ihr Erfinder, entwickelt das Genre in Richtung des großen Romans. Daher bleibt die Einzelfolge unverständlich, die Zuschauer müssen also dranbleiben, sonst kommen sie nicht rein

Kinogeher lieben es, solche Assoziationen auszuspinnen; das Nacherzählen haben sie mit den Romanlesern gemein

von MICHAEL RUTSCHKY

Jetzt geht’s also endlich weiter. Samstagnacht um 23 Uhr sendet das ZDF die zweite Staffel von „Die Sopranos“ und erlöst unsresgleichen von dem Wiederholungszwang, noch mal und noch mal die Kassetten der ersten Staffel – wohlfeil bei Ihrem Videohändler zu erwerben – abzuspielen. „Was schauen wir heut Abend an?“ – „Wir haben das Attentat auf Tony und die große Abrechnung erst einmal gesehen!“ Die Fortsetzung der Geschichte im ZDF erlöst euch von der Proselytenmacherei.

Jetzt muss unsresgleichen nicht bei jeder Gelegenheit fragen: „Schwärmen auch Sie für die Sopranos?“ Und wenn der/die Befragte nein sagt oder gar Unkenntnis signalisiert, beginnt ein wortreiches Nacherzählen: Wie Tony Soprano (James Gandolfini), Mafiaboss in New Jersey, wegen heftiger Depressions- und Panikanfälle die Psychoanalytikerin Dr. Melfi (Lorraine Bracco) aufsuchen muss . . . Wenn Sie letzten Samstag dabei waren, wissen Sie, dass Tony den Killer umlegen ließ, den sein Onkel Corrado, genannt Junior (Dominic Chianese), auf Dr. Melfi angesetzt hat. Sie praktiziert aus Sicherheitsgründen im Motel und macht unterdessen selbst einen stark verstörten Eindruck.

Aber wahrscheinlich verstanden Sie, von unsresgleichen angefixt, letzten Samstag nur mühsam, wie die Geschichte der Sopranos läuft. Pussy heißt dieser düster lächelnde Fettsack? Warum tauscht Tony immer wieder solche grüblerischen Blicke mit ihm? Und was geht mit Mutter (Nancy Marchand) vor? Warum verweigert Tony jeden Kontakt zu der seltsamen alten Frau mit dem störrigen, sandfarbenen Haar? Mehr – mögen Sie letzten Samstag nach der ersten Folge der zweiten Staffel enttäuscht gedacht haben – bieten sie nicht, die berühmten Sopranos? Was soll der Lärm?

Am Anfang ging es mir genauso. Mein alter Freund Theckel, dessen Augengeschmack ich in vielen Hinsichten teile, weshalb man uns oft gemeinsam als Kinogeher sieht, mein alter Freund Theckel empfahl dringend „Die Sopranos“, als das ZDF sie zum ersten Mal sendete. Willig schaltete ich zu einer unmöglichen Zeit ein, sah einer Horde unattraktiver Menschen beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters bei ihren undurchsichtigen Auseinandersetzungen zu – regelmäßig wird auch jemand umgebracht – und verstand Bahnhof. Dass dieser Fettsack in der Midlife-Crisis, der mal bärig-gemütlich, mal richtig gemeingefährlich ausschaut, irgendwie die Hauptperson gab, kriegte ich mit. Aber die elegante Analytikerin, bei der er nicht liegt, sondern sitzt, versuchte ich gleichfalls ins Mafianetz einzupassen und blieb stecken. Nichts verband sie mit dem alten, schwarz bebrillten Kahlkopf namens Junior. Später schaute ich noch die eine oder andere Folge, die aber meine Verständnislosigkeit bloß fortsetzten. Bleiben Sie also diesen Samstag unbedingt dabei. Sonst kommen Sie nicht rein.

Denn „Die Sopranos“ folgen in puncto Erzähldichte den großen Romanen des 19. Jh. Anders als die TV-Serien, die man so kennt, bildet jede Folge ein Kapitel innerhalb eines großen Erzählzusammenhangs, den die Staffel als Ganze entwickelt. Zwar kriegen wir immer den einen oder anderen Subplot zu sehen, plötzlich taucht Janice auf, Tonys Schwester, und bringt den Kalten Krieg mit Mutter wieder in Bewegung – doch wenn Ihnen die Vorgeschichte unbekannt ist, sagt Ihnen das gar nichts. Dass der hübsche Christopher, der seiner Aufgabe als Chef einer Brokerfirma letzten Samstag sich so gar nicht gewachsen zeigte – er war nicht zur Stelle, als seine Jungs einen der Broker zusammenschlugen –, dass Christopher (Michael Imperioli) auf dem besten Weg zum Junkie ist, deutete sich zwar an, aber erst die nächsten Folgen werden es erweisen.

Eigentlich möchte Christopher, Tonys Neffe, entweder aufsteigen oder aus der Mafia aussteigen. Und Drehbücher für Hollywood schreiben über die Mafia, versteht sich; „Der Pate“ mit seinen drei Teilen, aber auch Martin Scorseses „Goodfellas“ und „Casino“ erwirtschafteten schließlich strahlenden Ruhm und viel Geld. Demnächst bekommt Christopher, freuen Sie sich drauf, von seiner Liebsten einen Schauspielkurs für Drehbuchautoren geschenkt und gerät beim Nachspielen von James Dean in „Rebel Without A Cause“ peinlicherweise vollkommen außer sich. Normalerweise funktioniert die Einzelfolge einer Fernsehserie wie eine Kurzgeschichte; in 45 Minuten wird uns richtig was erzählt. Bei den großen Romanen des 19. Jahrhunderts aber – Charles Dickens ebenso wie Henry James ließen die ihren als Fortsetzungsromane in Magazinen drucken – bleibt man mit einem einzelnen Kapitel unterversorgt. Sogar die Illustriertenromane der Lesezirkel, die ich als Jüngling in den Fünfzigern wegschnabulierte, folgten noch diesem Prinzip. Der Fortsetzungsroman sollte den Leser enger an das Blatt binden. Um zu erfahren, wie es weitergeht, musste er das nächste Heft kaufen, respektive im Lesezirkel mieten.

David Chase, der Erfinder der „Sopranos“, entwickelt das Genre also in Richtung des großen Romans. Anders als Endlosreihen wie „Lindenstraße“ oder auch „Emergency Room“ ist jeder Folge einbeschrieben, dass das Ganze mal ein Ende haben wird – aber eben nicht in 4, sondern in 13 Folgen, was die Erzähldichte und den Erzähldruck erheblich steigert. Unter den TV-Leuten gesellt sich David Chase zu Dennis Potter („Lipstick on Your Collar“, „Der singende Detektiv“), der ebenso fruchtbar im Genre der Fernsehserie gearbeitet hat. (Keine Sorge übrigens: Wie man hört, wird eben die vierte Staffel der „Sopranos“ abgedreht. Was unsresgleichen besonders beschäftigt: wann und wie David Chase es hinkriegt, dass Dr. Melfi mit Tony Soprano ins Bett geht.)

Was also meinesgleichen für die „Sopranos“ gewonnen hat, ist zuallererst die Kunst. Mein alter Freund Theckel zählte aus, dass jede Folge von 50 Minuten ungefähr 40 Einzelszenen enthält, eine ganz außerordentliche Komplexität und Geschwindigkeit. Die Schauspielkunst ist, bis hinunter zur letzten Nebenrolle, ein Fest; wobei die Typen und Typinnen sich in der Regel durch Unattraktivität auszeichnen. Aber schon den massigen James Gandolfini, der schnell mit Gusto morden, aber sich auch von der Depression in einen grauen Schatten verwandeln lassen kann, zeichnet eine schier unglaubliche Ausdrucksvielfalt aus. Seit ich „Die Sopranos“ kenne, finde ich ihn hier und dort wieder: In „Get Shorty“ von Barry Sonnenfeld spielt er, vollbärtig und mit Pferdeschwanz, einen zum Schläger abgestiegenen Stuntman; in dem neuen Film der Coen-Brüder, „The Man Who Wasn’t There“, ein Mordopfer im eleganten Zweireiher. Weil wir gerade dabei sind: Dominic Chianese, der widerliche Onkel Junior, der jetzt im Knast sitzt und in der ersten Staffel seinen Neffen Tony fast umgebracht hätte, dieser Dominic Chianese gab mager und anmutig in „Der Pate“ 1974 Johnny Olah, den Hitman von Hyman Roth (Lee Strasberg), der Fredo (John Cazale) zum Verrat an seinem Bruder Michael Corleone (Al Pacino) verführt.

Kinogeher lieben es, solche Assoziationen auszuspinnen; überhaupt: das Nacherzählen. Das haben sie mit den Romanlesern gemein – und so dürfen Sie meinesgleichen jederzeit fragen, wie denn diese oder jene Szene der zweiten Staffel zu verstehen sei, weil Sie eine Folge verpasst haben oder überhaupt neu in diesem Kreis sind. So muss es schon mit Charles Dickens’ Fortsetzungsromanen funktioniert haben; so kenne ich es noch von den Illustriertenromanen in den Lesezirkeln der Fünfziger: Dankbar ließ sich Tante vom Jüngling auf den neuesten Stand bringen.

Diese Nacherzählbarkeit erleichtert es dem Leser, dem Kinogeher, dem TV-Zuschauer so außerordentlich, sich selbst unter die Personen in die Geschichte zu mischen. Von unserer Freundin Jutta kann ich berichten, dass erst Nancy Marchand in der Rolle von Livia Soprano, die an dem Mordkomplott gegen ihren Sohn Tony ebenso umsichtig wie unbewusst mitwirkt, sie – unsere Freundin Jutta – wirklich davon überzeugte, dass ihre eigene Mutter ein richtiges Scheusal ist und immer schon war. „Das schließt die Evolution aus: dass das Kind erkennen kann, meine Mutter ist das Böse.“ Dazu braucht es die Kunst. Oder die Psychoanalyse: Tony Soprano lernt es bei Dr. Melfi gerade noch rechtzeitig. Wir werden sehen, wie seine Schwester Janice, die Hippieschlampe, Livia, das Mutterscheusal, wieder ins Spiel bringt, seit letztem Samstag erkennbar aus familialen ebenso wie finanziellen Gründen.

Bleibt die Rätselfrage, warum man der Mafia bei ihren geschäftlichen, verbrecherischen, familialen Tätigkeiten mit solcher Anteilnahme zuschaut. Die Kollegin Lau meint, das Verbrechen verleihe als Hintergrund der Familienserie eine Schärfe, die sie erst genießbar macht. Eine normale Familienserie in Suburbia würde ich verschmähen. Der harte Kontrast zwischen Verbrechen und familialer Zärtlichkeit und Intimität verschaffte ja schon dem „Paten“ seine außerordentliche Wirkungskraft. Aus Liebe und Anhänglichkeit zu seinem Vater macht der jüngste Sohn, dem der Vater eigentlich eine Karriere außerhalb zudachte, zum ersten Mal den Killer; wie im Märchen wird er der Nachfolger seines Vaters und muss sein Leben lang versuchen, die Familie und das Vermögen aus der Verbrechenszone herauszusteuern. „Und immer, wenn ich denke, ich bin draußen, ziehen sie mich wieder rein.“

Dass Silvio Dante, eine von Tony Sopranos Schranzen, diese Szene aus dem dritten Teil des „Paten“ zu allgemeinen Vergnügen immer wieder vorspielt, gehört zu den Running-Gags der „Sopranos“. In gewisser Weise gelang Tony, was Michael Corleone misslang: Er führt ein stinknormales Leben in Suburbia. Bloß verlief die Normalisierung ganz anders, als Michael Corleone sie sich wünschte: Statt dass alle Geschäfte legal wurden, nahmen die verbrecherischen im Halbdunkel selbst eine Art von Normalität und Legalität an. Das Geschäftsleben bildet einen universalen Schuldzusammenhang, der halt an der Mafia deutlicher als anderswo zutage tritt.

Das macht „Die Sopranos“ für den Bürger der modernen Welt so überzeugend. Klar, kaum ein Angestellter, Beamter, Freiberufler wirkt an krummen Dingern, womöglich Verbrechen direkt mit. Jedenfalls kann er sie nicht innerhalb seines Horizonts ausmachen. Was freilich dahinter liegt . . . Und oft fühlt er sich doch genauso elend wie Tony Soprano und muss zum Therapeuten. Schuldgefühl und Depression drücken ihn, als richte er täglich das schlimmste Unheil an. Da beruhigt und erfrischt es, Leuten in Suburbia zuzuschauen, deren Leben tatsächlich satt in Übeltaten eingebettet ist. Wir sind wie sie – nein, wir sind es nicht.