Nachsitzen bei Johannes

Weil die Länder keine Konsequenzen aus „Pisa“ ziehen, hält der Bundespräsident den Verantwortlichen eine Standpauke

aus Berlin CHRISTIAN FÜLLER

Als jüngst die verheerenden deutschen Ergebnisse des weltweiten Bildungstests Pisa veröffentlicht wurden, reagierten die Kultusminister mit einer Presseerklärung. Als Lesetestaufgabe für Schüler oder Bürger wäre die nicht verwendbar gewesen, so verschwurbelt und kompliziert war sie formuliert. Sogar Expertenkreise grübelten, was die Bildungsminister mit ihren „Sieben Handlungsfeldern“ genau meinen mochten.

Das vermeintliche Sofortprogramm für die deutschen Legasthenieweltmeister hat wohl auch Bundespräsident Johannes Rau missfallen. Also nutzte er den Kongress des „Forums Bildung“ in Berlin, um den zuständigen Kultusministern die Ohren langzuziehen.

Pisa habe auch all jene aufgeweckt, sagte Rau, „die immer noch nicht begriffen hatten, dass Bildung wichtig ist“. Die schlechten Schülerleistungen und die vernachlässigten Schulen gehörten ganz oben auf die Tagesordnung, forderte Rau. „Damit meine ich nicht nur die professionellen Bildungspolitiker, sondern alle politisch Verantwortlichen.“ So deutlich hat noch kein Präsident die Regierungschefs der Länder an ihre Kulturhoheit erinnert, nicht einmal Raus Vorgänger Roman Herzog. Johannes Rau hielt seine Ruckrede - bloß mit anderen Mitteln.

Der Vater von drei schulpflichtigen Kindern ließ die Bildungspolitiker nachsitzen. Frech, teilweise hemdsärmelig – „Die Bannerträger der Wissenschaft werden gequält aufschreien!“ – zeigte er die schlimmsten Schulmängel auf: Die Bildungsbeteiligung sei viel zu gering, Grundschulen und Kindergärten seien „offenbar seit Jahrzehnten vernachlässigt“, das wenige Geld für Schulen stelle ein „massives Problem“ dar, „mehr Ganztagsschulen in allen Schulformen“ würden gebraucht.

Die Zuhörer, die Rau mehrfach mit Beifall unterbrachen, merkten, dass der ehemalige Wissenschaftsminister und Initiator einer vielbeachteten Bildungsstudie (“Schule der Zukunft“, 1995) in seinem Element war. Keine Spur vom sonst so betulichen Bruder-Johannes-Stil.

Ein anwesender Studienberater der Ruhr-Uni Bochum staunte, „dass dem Präsidenten Bildung ein so persönliches Anligen ist“. Klaus Schnitzer, Forschungsleiter des angesehenen Hochschul-Instituts Hannover (HIS), freute sich, dass Rau „mit der Bildungsbeteiligung den entscheidenenden Punkt getroffen hat“. Selbst der Lordsiegelbewahrer der Kulturhoheit der Länder, Bayerns Wissenschaftsminister Hans Zehetmair (CSU), begrüßte, „dass der Präsident uns unterstützt und motiviert“.

Nach dem peinlichen 22. Platz, den die deutschen Schüler beim Lese-und- Verständniswettbewerb Pisa errungen hatten, war eigentlich klar, dass die Reaktionen auf eine Bildungsphilippika des Staatsoberhaupts überwiegend positiv sein würden. Aber was wird der Präsident, der doch nur Reden halten darf, für frustrierte Schüler, Eltern und Lehrer bringen? Kann er die teilweise empörenden Zustände an deutschen Lehranstalten etwa ändern?

Die Kultusminister, die wie die Orgelpfeifen aufgereiht vor Rau saßen, dürften trotz der Standpauke zufrieden gewesen sein. In den Länderkabinetten, wo demnächst bei Etatberatungen ein Streit über die Verteilung der überall zurückgehenden Steuereinnahmen ausbrechen wird, haben sie nun eine viel bessere Ausgangsposition. Von Berlins Schulsenator Klaus Böger (SPD) über Sachsens Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer (CDU) bis zur hessischen Kultusministerin Karin Wolff (FDP) grienten sie gestern – weil ihnen in Sachen Geld so deutlich der Rücken gestärkt wurde. Rau bekannte sich zu ihrer Position, die sie Mitte vergangenen Jahres mit einem Konzept in der Bund-Länder-Kommission (BLK) für Bildungsplanung formuliert hatten. Das BLK-Ansinnen nach mehr Geld für Schulen hatten die Länderfinanzminister damals rüde zurückgewiesen. Dieses Veto ist nun nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) hat sich bereits vor einigen Tagen als erster Regierungschef dazu bekannt, Bildung zum Top-Thema im bevölkerungsreichsten Bundesland zu machen. Als hätten Clement und sein Ziehvater Rau sich abgesprochen, zielten beide mit ihren Reformvorschlägen auf den Elementarbereich des Lernens, die Kindergärten und die Grundschulen. Clement hatte versprochen, mehr Geld in die ersten Lernjahre zu investieren. Rau skandalisierte gestern eine Faustregel der deutschen Schule als „falsch und schädlich“: „Je kleiner die Kinder, desto größer die Klasse.“ Beim Bau des Bildungshauses, sagte der Bundespräsident, „beginnt man aus gutem Grund mit dem Fundament und nicht mit dem Dach“ – sonst werden aus den „großen und starken Häusern bald Bildungsruinen.“

Die größte Überraschung war gestern sicherlich, dass sich Johannes Rau auch für eine kontinuerliche Bildungsberichterstattung aussprach. Was wie eine neue, unwirksame Bildungsverwaltung anmutet, könnte tatsächlich ein Unruheherd für die bisweilen lethargischen Kultusbürokratien werden.

Hinter Bildungsberichterstattung verbirgt sich eine unabhängige Testeinrichtung – die immer wieder Schulen, einzelne Fächer, notfalls sogar die Qualität von Elternsprechstunden unter die Lupe nehmen könnte. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) signalisierte gestern großes Interesse an einer solchen Testeinrichtung. Und auch CSU-Mann Hans Zehetmair begrüßte die Idee grundsätzlich. Er müsste dann nämlich zum Beispiel nicht mehr darum kämpfen, dass die Vergleichsdaten der Schulen aus Nordrhein-Westfalen auch ihm vorgelegt werden.