Aus Neu mach Alt

Die Neue Musik, die selbst in bildungsbürgerlichen Kreisen seit ihren Anfängen als Kassengift galt, kommt langsam in die Jahre. Ein Altern, das Gefahren birgt – und Chancen

von ROLF-BERNHARD ESSIG

Wie sich Konservatoren in den Museen mit ungeahnten und schier unlösbaren Problemen der Fett-Filz-Bluteis-Plastik-Müll-Konservierung herumschlagen müssen, so sehen sich Musiker, die Kompositionen der Moderne spielen wollen, seit einiger Zeit mit ähnlich schwierigen Fragen der historischen Aufführungspraxis konfrontiert. Nicht nur die beschleunigte Historisierung ist Schuld, sondern auch der Fortschritt in Instrumentenbau und -verwendung. Woher nimmt der Orchesterwart für Karlheinz Stockhausens „Mikrophonie I und II“ von 1964 und 1965 die Sinusgeneratoren und Ringmodulatoren? Selbst etwas scheinbar Einfacheres wie die Hammondorgel wirft Schwierigkeiten auf, denn die heutigen Instrumente klingen entschieden anders.

Gleicht analoge Musik von Tonbandgeräten, wie sie nicht allein bei Stockhausen verwendet werden, wirklich der digitalen vom Computer? Wie steht es mit der berühmten Musik für elektrische Schreibmaschinen oder für Staubsauger? Wo gibt es heute dergleichen und entsprechend viele? Zu allem Überfluss machte die Elektronische Musik in den vergangenen Jahrzehnten einen Wandel durch, der nur mit dem fundamentalen Umbruch zum romantischen Orchester verglichen werden kann. Damals wurden ganze Instrumentenfamilien ausgetauscht: Der Serpent wich der Tuba, die hölzerne Traversflöte der metallenen Böhm’schen Klappenflöte, die Naturtrompeten und -hörner den Ventilinstrumenten, die ganze Gambenfamilie den modernen Streichern. Genau so wich die Analog- der Digitaltechnik.

Heute gibt es kaum jemand, der mit den Programmen der frühen Synthesizer und Computer umgehen kann – gesetzt, die Hardware ist überhaupt noch vorhanden und funktionsfähig. Mit einem Wort: Plötzlich sind Kompositionen des 20. Jahrhunderts alte Musik geworden. Bald wird sich wohl John Eliot Gardiner den Werken von Reich, Schulhoff, Cage e tutti quanti annehmen, da er auf seinem langen Weg der historischen Aufführungspraxis immerhin von Claudio Monteverdis „L’Orfeo“ bis zu Franz Lehars „Lustiger Witwe“ gelangt ist.

Vielleicht liegt in dem ungewohnten Status musealer Klangkunst sogar eine Chance für Kompositionen des 20. Jahrhunderts, denn geradezu erschreckend stabil blieben seit den Tagen der Erneuerer die Vorurteile gegen sie und ihre Nachfolger. Wie dem Pawlowschen Hund der Speichel beim Glockenton fließt, so sondert der durchschnittliche Konzertbesucher bei dem Stichwort „Neue Musik“ die Vokabeln „Schönberg“, „Zwölftonmusik“, „Kakophonie“ ab. Schon manche Mahler-Sinfonie vermag, allein durch den Klang des Namens, die Ränge einer städtischen Konzerthalle zu leeren – wieviel mehr die Namen Wolfgang Rihm, Morton Feldman, Isang Yun oder Violetta Dinescu!

Wenn dann noch – wie jüngst in Hamburg geschehen – verwirrte Terrorästhetik aus dem Mund des 73-jährigen Stockhausen träufelt, dann wiehern die Wissenden im Triumph, die schon immer die Neue Musik mit Brutalismus identifizierten. Tatsächlich könnte man auf eine solche Idee verfallen, wenn man sich einmal als Zuhörer im Zentrum eines entfesselten Sturms von nicht weniger als vier Schlagwerk-Batterien befand, die Iannis Xenakis in „Psappha“ aufbietet. Doch abgesehen davon, dass der Effekt dieses Stückes weit über das schlagende Erlebnis körperlicher Durchdringung hinausgeht, dass sie begeistert, verunsichert und in ihrer Klarheit förmlich blendet, abgesehen davon nimmt der heutige Hörer in der Regel solche Stücke genauso wenig wahr wie die bunte Musikszene seiner Zeit überhaupt; für ihn ist das alles nur weißes Rauschen.

Minimal Music oder Aleatorik sind für ihn böhmische Dörfer, und ein extrem erfolgreicher Bereich wie die Filmmusik findet selbst vor den Dirigenten nur sehr langsam Gnade. Hoffentlich waren Bernard Hermann, Miklos Rozsa, Ennio Morricone und Elmer Bernstein erst die Vorhut einer Bewegung, die erkennt: Viele der für Filme geschaffenen Zweckkompositionen gleichen in Art und Qualität durchaus mancher Zweckkomposition anerkannter Klassiker wie Henry Purcells Begräbnisfanfaren für Queen Mary, Joseph Haydns Verdauungsmusik für den Fürsten Esterházy oder Johannes Brahms’ akademische Festklänge.

Immer wieder gelang der private Test, erklärten Verächtern der Neuen Musik bei einer abendlichen Einladung Michael Nymans Musik zu Peter-Greenaway-Filmen unterzujubeln und nach einer Stunde nachzufragen, ob sie gefallen hätte: In jedem Fall, selbst bei der 80-jährigen Großmutter, äußerten die Versuchspersonen ihre Zustimmung, und beim Hinweis darauf, Neue Musik gehört zu haben, erklärten sie, diese sei offensichtlich die Ausnahme, welche die Regel bestätige.

Vielleicht führen also Umwege zu neuer Hörbereitschaft. Und da man neugieriges Zuhören nicht erzwingen noch verordnen kann, hilft möglicherweise der Umweg über das Lesen. Natürlich richtet man mit Büchern allein wenig aus gegen die Vorurteile; doch fundiertes Wissen, wie man es aus dem hoch zu lobenden Handbuch „Die Musik des 20. Jahrhunderts“ (Insel Verlag, € 34,77) von Jean-Noël von der Weid in Hülle und Fülle gewinnen kann, öffnete wohl so manches Ohr. Mauricio Kagel schreibt im Vorwort: „Unser Sachwissen braucht eine ständige Zufuhr an überraschenden Kenntnissen und Korrekturen, um den geistigen Horizont nicht verengen zu lassen.“

Von der Weid konzentriert sich auf die „Leuchttürme“, Komponisten, die nicht nur berühmt, sondern derartig einflussreich in der Musik wurden, dass sie ihr eine andere Richtung gaben. Bis 1945 sind das für ihn: Debussy, Schönberg (und die Wiener Schule), Strawinsky, Bartók, Varèse. Schon mit dieser Entscheidung signalisiert von der Weid, dass es ihm nicht um ein Kompendium und Vollständigkeit geht. (Natürlich nennt und betrachtet er wesentlich mehr Musiker als die Genannten).

Durchaus kämpferisch und scharf urteilend, zeichnet er nie nur Geschichte nach, sondern interpretiert und bewertet Komponisten und Kompositionen nach seinen expliziten Qualitätskritierien. Es ist erstaunlich, wie es von der Weid gelingt, Komponistenporträts pointiert, spannend und kenntnisreich in den großen Zusammenhang seines Handbuchs einzubinden und darüber die Kärrnerarbeit des Biblio- und Diskografen (ein Glossar gibt es auch noch) nicht zu vergessen.

Zwangsläufig begnügt er sich dabei nicht mit dem engen Blick des Musikwissenschaftlers, sondern bezieht wichtige Strömungen und Werke der Bildenden Kunst, der Literatur und gesellschaftlicher Entwicklungen mit ein. Was dem Buch allerdings fehlt, ist die Berücksichtigung der Filmkomponisten, der populären Musik und eine verlockende CD, die hineinzieht in jene Klangwelten, die er mit Worten nachzeichnet. Manchmal hat man ja den Eindruck, Vertreter der Neuen Musik seien nicht ganz schuldlos an ihrer „splendid isolation“, die sie von Festival zu Festival, von Kompositionsauftrag zu Kompositionsauftrag führt.

Dabei verlangt niemand von ihnen Anbiederung, vorauseilenden Gehorsam, gar Selbstzensur, doch wenn sie in Programmheften erläuternde Texte in schlechtem Deutsch, mit hermetischen Celan-, Cage- und Zen-Zitaten angereichert, verbreiten, kann man es dem Zuhörer nicht verdenken, wenn er auf den Gedanken kommt, hier spiele der eine oder andere Scharlatan mit. Friedrich Nicolais Diktum fällt einem ein: „Aufklärung ist – zumal in Deutschland – nötig!“

Das könnte heißen: Neue Musik schon in der Schule nicht nur zu lehren, sondern auch von den Schülern aufführen zu lassen. Das könnte heißen, Ensembles zu unterstützen, die sich auf Neue Musik konzentrieren und damit ihre spezifische Qualität besonders deutlich zu Gehör zu bringen. Das könnte schließlich heißen, durch Moderationen in Konzerten Barrieren abzubauen.

Der letzte Punkt führt übrigens wieder zurück zur Alten Musik, die sich längst emanzipiert hat von ihren blutleer-akademischen Anfängen, längst neben der Spiellust auch die unterhaltsame Aufklärung des Publikums für sich entdeckt und damit immer mehr Erfolg hat. In einer Zeit, da die allermeisten Zuhörer über ein bis zwei Jahre Blockflötenunterricht nicht hinausgekommen sind, bietet sich eine sparsame und kluge Moderation für beinahe alle Konzerte an. Natürlich soll Musik nicht totgequatscht werden, aber kurze Erläuterungen zwischen den Stücken wirken immer wieder Wunder, schließlich hört man nur, was man weiß.

Wenn die Neue Musik hier mehr von der Alten Musik lernt, kann sie vielleicht endlich aus ihrem Schmollwinkel herauskommen. Auf diese Weise gelänge es ihr auf jeden Fall besser, etwas wieder herzustellen, was György Ligeti in einem meiner Lieblingsstücke vorführt und im Titel nennt. Die Komposition ist ein rasantes, fulminantes, unwiderstehliches Solostück von 1968 für das gute alte Cembalo, das in seinen irrwitzig schnellen Tonwiederholungen und -überlagerungen so modern und bezaubernd, so emotional und sphärisch klingt wie nie zuvor. Der Titel lautet schlicht: „Continuum“.

ROLF-BERNHARD ESSIG lehrt in Bamberg Literaturwissenschaften