„Schule experimentiert zu wenig“

Unterricht ist nicht nur dazu da, Wissen in die Köpfe der Schüler zu transportieren, meint Antonella Mei-Pochtler von der Boston Consulting Group. Selbst organisiertes Arbeiten ist genauso wichtig. Ein „Bildungschampion“ könnte die Schule reformieren

Interview UDO LÖFFLER

taz: Frau Mei-Pochtler, eines der frappierendsten Ergebnisse der Pisa-Studie ist der große Unterschied zwischen deutschen und finnischen Schülern. Wie erklären Sie sich, dass die Finnen mit einer Einheitsschule für alle bis zur neunten Klasse solche Ergebnisse erzielen?

Antonella Mei-Pochtler: Was mich vor allem überrascht hat, ist, dass unsere Spitzengruppe dünner als die anderer Länder ist. Zudem haben wir fast ein Viertel sehr schlechter 15-Jähriger. Das Interessante ist, dass die finnischen Schüler deutlich weniger Unterrichtsstunden haben. Was machen die Schüler in der Freizeit? Sie verbringen die Zeit sehr eigenständig – sie lesen oder bilden sich im Internet weiter oder arbeiten in freien Projektgruppen. Wir sprechen in unserer Studie „Die Zukunft bilden“ von der Schule als einem „geregelten Marktplatz“.

Schule ist aber etwas anderes als Markt.

Ja, aber wir wollen, dass die Schüler eigenständig denkende und arbeitende Menschen werden, die auch die Freizeit für sich gestalten. Mehr Schulzeit ist nicht gleich mehr Bildung. Mehr Zeit kann auch in der Schule verbracht werden, aber nicht im klassischen Unterricht, sondern selbst organisiert.

In einer Ganztagsschule?

Die Ganztagsschule ist nur eine Plattform, die wir erst mit Leben füllen müssen. Vielleicht sollten wir lieber von einer anderen Form der Schule sprechen, in der sich Unterricht und andere Aktivitäten abwechseln. Zeiten, in denen die Schüler ihre Zeit auch selbst gestalten.

In der Studie „Die Zukunft bilden“ beschreiben Sie, wie die schulische Bildung aus Sicht der Wirtschaft aussehen müsste. Warum sind die Boston Consulting Group und Sie persönlich da so engagiert?

Man kann sich ja nicht nur beschweren. Als wir feststellten, wie gering das Niveau der Abiturienten teilweise ist, haben wir uns gefragt: Wo kann man ansetzen? Natürlich in der Schule und früher. Wir verstehen uns als Impulsgeber, der darauf drängt, neue Ziele in Schulalltag und Schulprogramm einfließen zu lassen. Ziele, die mit einem konventionellem Schulkonzept nicht realisierbar sind.

Woran krankt die deutsche Schule aus Ihrer Sicht?

Wir bekommen nicht die eigenständig denkenden und arbeitenden Schüler, die wir eigentlich gerne hätten. Die meisten Gymnasiasten haben große Schwächen in den Kernkompetenzen – strategisches und vernetztes Denken, Überzeugungskraft und Entscheidungsfähigkeit, Kreativität und Kooperation. In der Schule fällt das vielleicht als Nebenprodukt ab. Aber es ist nicht Teil des Ausbildungsprogramms.

Woher kommen diese Schwächen?

Die Schule ist zu einseitig auf Wissenstransport ausgerichtet. Sie zeigt zu wenig Experimentierfreude. Bei den Lehr- und Lernmethoden müssen wir neue Wege gehen – und einige gute Beispiele dafür gibt es ja bereits.

In Ihrer Studie nennen Sie das W + E [3]? Was bedeutet das?

Wir wollen ja nicht weniger Wissen und mehr Fähigkeiten, sondern Wissen gepaart mit Fähigkeiten. Deswegen haben wir die Formel „Wissen plus E[3]“ entwickelt: Energie, Engagement und Eigeninitiative.

Können Schüler und Lehrer damit etwas anfangen?

Viel – wenn man die Ausnahme zur Regel macht. Wir suchen uns gelungene Beispiele, best practices, und versuchen sie zu Vorbildern für die Regelschule zu küren.

Bundespräsident Johannes Rau sagte, es sei genug geredet und geschrieben worden. Wie kann man Reformvorschläge konkret umsetzen?

Der Bundespräsident hat vollkommen Recht. Uns wäre es wichtig, nicht alles auf einmal anzugehen. Und auf keinen Fall in einem Konflikt zwischen Bund und Ländern stecken zu bleiben. Es geht darum, ein lernendes System zu schaffen.

Was meinen Sie damit?

Jeder soll vom anderen lernen, das ist immer das Wirksamste. Es gibt jetzt schon viele Musterschulen, die haben Vorbildcharakter und erzeugen regelrechten Nachahmungsdruck. Das Motto sollte heißen: Wenn mein Vorbild es schafft und glaubwürdig ist, weil es die gleichen Probleme hat – dann schaffe ich das auch.

Nach Pisa gab es dutzende, sich teilweise wiedersprechende Empfehlungen. Wo fängt man an?

Deutschlands Vorteil ist erstens seine Größe. Und zweitens der Föderalismus – ein ideales Feld für Wettbewerb: Jedes Bundesland sollte eine Rangliste seiner Vorbildschulen aufstellen. Sie stehen untereinander und mit anderen Bundesländern im Wettbewerb. So steigt das Gesamtniveau in einem Wettbewerb der Schulen, nicht der Verordnungen der Kultusbürokratie. Wir sollten auch Lern- und Lehrziele definieren. Die reading literacy, die Lesekompetenz von Pisa, hat dazu einen guten Anstoß gegeben. Andere Elemente wie fächerübergreifende Kompetenzen sollten hinzukommen.

Wo sehen sie die „Brandherde“ in der Bildung?

Wir sollten die Kinder besser an die Schule und an die höhere Bildung heranführen. Das bedeutet, Kindergarten und zwei Klassen Grundschule sind die erste ganz wichtige Stufe. In der frühkindlichen Erziehung formen sich die ganzen sozialen Kompetenzen sowie die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen – beides ist später kaum noch nachzuholen. Der nächste große Bruch kommt im Gymnasium. Dort kann man sein gesammeltes Wissen das erste Mal vernetzt einsetzen.

Wer soll den Prozess der Umsetzung anleiten und moderieren?

Wir können uns gut vorstellen, einen Initiativkreis Bildung zu schaffen. Das wäre ein Kreis von potenziellen Nachfragern und Nutzern, die unabhängig sind. Sie dürfen nicht ein einseitiger Teil der Bildungsmaschinerie sein.

Was tut ein Initiativkreis?

Er wird von einem Bildungschampion geleitet. Das ist ein Innovationsmanager, der übergreifend verschiedene Initiativen überprüft. Sie müssen sich das wie eine Kaskade von Wasserfällen vorstellen. Vom Initiativkreis Bildung mit einem Champion werden einzelne Ideen heruntergebrochen auf einzelne Bundesländer und Schulen. Jede Schule sollte selbst einen Initiativkreis haben. Wir müssen den einseitigen Dialog zwischen Eltern und Lehrer um gesellschaftlichen Gruppen erweitern, die sich im Umkreis der Schule befinden – die Kommune, Unternehmen, lokale Initiativen.

Wie lange dauert Ihre Art der Bildungsreform?

Zuerst muss das Ziel definiert werden. Zum Beispiel: Lasst uns innerhalb von fünf Jahren die Finnen überholen!

Geht’s auch konkreter? Wie lange würden Sie für Ihre Vorschläge zu Kindergarten und Gymnasium brauchen?

Fünf Jahre sind ein gut überschaubarer und planbarer Zeitraum. In dem sollten wir versuchen, im Kindergarten die Kernfähigkeiten als Lehrziele zu definieren und eine Art Fähigkeitszeugnis erstellen, das in einigen Pilotprojekten eingeführt wird. Damit könnte man sofort beginnen. Gleiches gilt für die Gymnasien, obwohl es da natürlich komplizierter ist. Sie identifizieren zuerst die Best-Practice-Schulen, schauen, was diese Schulen anders machen, und etablieren dann den Austausch. Auch hier könnte man innerhalb von fünf Jahren einen Wechsel in der Methodik sehen.

Siehe auch: www.forum-bildung.de