Haken im Reich der Sinne

Wo Ich ist, soll Stein werden: Der koreanische Filmregisseur Kim Ki-Duk schafft mit „The Isle“ schwer zu ertragende Bilder, in denen die brutale Gewalt gegen Tiere mit totaler Vereinsamung einhergeht

von ANDREAS BUSCHE

Die Landschaft liegt verletzlich da, wie in einem Vorzustand kultureller Zuschreibung. Ein mystisches, halb reales Panorama, dessen Wattigkeit die geografischen Senken und Erhöhungen in Unschärfe taucht. Nasskalte Nebelbänke haben sich wie ein Schutzmantel über diese archaische Szenerie gelegt; die Berge, der See, der Horizont scheinen sich dem Blick des Betrachters entziehen zu wollen. Unberührt und märchenhaft wirkt der See am Ende der Zivilisation, alle Konturen sind hinter der fleckigen Blässe der Grauschleier verschwunden.

So unzweideutig ist dieses Stillleben perfekter Natürlichkeit, dass man unwillkürlich versucht ist, subjektive Befindlichkeiten in eine solche Landschaft hineinzuprojizieren: Vor uns liegt das menschliche Unterbewusstsein als präzivilisatorische Matrix. In der fragilen Anordnung kleiner, sich aus dem matten Gewaber erhebender Inseln wird die Symbolhaftigkeit dieser Natur augenscheinlich. Die Inseln, auf Flößen schwimmende Hütten, über den See verteilt, ragen als isolierte Enklaven des Begehrens aus den dichten Nebeln dieser urzuständlichen Seelenlandschaft heraus. Doch der Blick stört sich an diesen Marken einer Außerweltlichkeit. Und auch die Kamera beginnt gegen die landschaftliche Überwältigung in der psychosozialen Ordnung nach den Bruchstellen dieses eskapistischen Ortes zu suchen.

Ein fataler Realitätsabgleich. Der Eindruck absoluter Freiheit täuscht. Die Idylle in dem koreanischen Film „The Isle“ entpuppt sich bei näherem Hinsehen als kleine Anglersiedlung, in die sich einige handfeste Zivilisationskrankheiten eingeschleppt haben. Der neugierige Blick in die geheimnisvolle Welt von Hee-Jin (Suh Jung), die dieses Refugium am Ende des Nirgendwo verwaltet, offenbart nicht die erwartete mythische Verdichtung. Es gibt keinen Fluchtpunkt mehr, nur noch nüchternes und brutales Funktionieren. Ohne Worte bewegt sich die junge Frau wie in einer Schneekugel durch das Terrain: Tagsüber transportiert sie mit dem einzig vorhandenden Boot Angelutensilien, Nahrung und Prostituierte für die ausschließlich männlichen Bewohner ihrer Siedlung; nachts treibt es sie wieder auf den See, wo sie sich für etwas körperliche Nähe an die Gäste verkauft.

Es fällt nicht leicht, sich auf die Gefühlslage des koreanischen Regisseures Kim Ki-Duks einzulassen. „The Isle“, dem seit seinem ersten Festivalauftritt der Ruf des Skandal- und Kultfilms vorauseilt, ist ein harter Brocken weitab von den Konventionen, die man vom asiatischen Autorenkino bereits gewohnt ist. Formal rangiert „The Isle“ mit den für das asiatische Kino typischen Ikonen eines poetischen Isolationismus durchaus in der Nähe von seriösen Großfestivalstoffen, während seine Bilder bereits einen inhumanen Fatalismus verinnerlicht haben, wie man es zwar gerne öfter sehen möchte, wohl aber nicht allzu oft ertragen könnte. Da prallt eine reiche Bildermythologie, deren westlicher Ursprung zwischen Sozialrealismus und Surrealismus noch gerade so entschlüsselbar bleibt, auf eine regelrecht öbszöne Verstocktheit, diese visuelle Eloquenz auch auf zwischenmenschlicher Ebene umzusetzen.

Zwischen den Figuren herrscht hilfloses Schweigen, jeder Versuch von Kommunikation zieht unweigerlich ein Bild der Zerstörung nach sich. Entweder weil Kommunikation schlicht unmöglich geworden ist, oder weil sie sich nur noch als Ausdruck dumpfer Frustrationen äußert.

Die andere Form von Beziehungen in „The Isle“ ist dagegen Ausdruck rigider Männlichkeit. Die Lebenswelt, in der Ki-Duks Figuren angesiedelt sind, ist eine einzige soziale Katastrophe. Fette, stinkende Managertypen, die ihren Darminhalt in den See kacken, ficken ihre Gespielinnen unanständig wie ein Stück Fleisch; schmierige Zuhälter treten ihre Nutten mit Füßen zur Arbeit usw. … Permanent schlagen körperliche Annäherungsversuche in blindwütige Eskalationsszenarien um, deren entfesselte Gewalt schockierend ziellos bleibt.

Noch mehr als die misogynen Unterströmungen seines Plots hat man Kim Ki-Duk allerdings die Misshandlung von Tieren in „The Isle“ vorgeworfen. Vor allem mit diesem Tabubruch, der im Westen eine fassunglosere Abscheu erzeugt als die sexualisierte Gewalt, scheint Ki-Duk die vage Resthoffnung auf eine intakte Wertegemeinschaft zu verwerfen. Auf zweierlei Ebenen, denn der Tod der Tiere im Film ist kein Special Effect: Vögel werden ersäuft, Fische zerhackt, Frösche zerrissen. Die verschiedenen Fälle von „Tier-Snuff“ liefern in der sadistischen Gedankenlosigkeit ihres Vollzugs allerdings nur das stimmungsvolle Vorspiel für ein eklatantes Unvermögen, zwischenmenschliche Zuneigung zu kommunizieren.

Der Fisch gilt in der asiatischen Kulturgeschichte als Symbol für Liebe; in „The Isle“ wird seine permanente Zerstörung zum Bild einer auch physischen Bankrotterklärung. Ein Fisch wird gefangen, als kleiner Snack zwischen zwei Ficks lebendig tranchiert und wieder in die Freiheit entlassen. Mit starker Schlagseite schwimmt er davon. Später wird er erneut gefangen, aber das Fundstück ist in seinem Todeskampf zu wirklich, zu erhaben, um endgültig vernichtet zu werden. Wieder wandert er in hohem Bogen in den See: Weiterleben als Bild ultimativer Grausamkeit.

Die Eskalation des Sozialen führt bei Ki-Duk konsequenterweise in eine Region vorrationaler Körperwelten: dem Slasher-Film. In den mythischen Sphären von „Don’t go in the Woods“-Splatterfantastereien à la „Freitag der 13.“ oder „Tanz der Teufel“ wird Hee-Jin zu „Ms. 45“, der stummen Rächerin aus Abel Ferraras gleichnamigem Selbstjustiz-Thriller, und beginnt mit trotziger Wut für ihre Würde zu kämpfen. Schauplatz der gewalttätigen Übergriffe, dem emotionalen und kommunikativen Scheitern, der aggressiven Selbstermächtigungen sind immer wieder die schwimmenden Hütten, in denen das angestaute und fehlgeleitete Begehren langsam zu vollem Wahn aufläuft. Im Mittelpunkt steht die Insel von Hyun-Shik (Kim Yoo-Sik), einem ehemaligen Polizisten, der nach dem Mord an seiner Frau und deren Geliebten in mönchischer Isolation seiner Strafe entgegensieht. Als er sich umbringen will, rettet ihm Hee-Jin mit einem Angelhaken das Leben. Sie beginnt ihn zu pflegen, und zwischen beiden entwickelt sich eine eigentlich zarte Liebe, die bald nur noch von selbstzerstörerischen Energien zehrt.

Doch selbst für den Asienkino-geschulten Blick, der sich bereits an dessen japanischen Vertretern Takeshi Kitano, Shinja Tsukamoto, Kazuyoshi Kumakiri („Kichiku“) und Takashi Miike abgehärtet hat, liefert der drastische Irrealismus Kim Ki-Duks nur mehr vage Interpretationsvorlagen. Die Bilder von Kim Ki-Duk evozieren die Frage, ob es vielleicht tatsächlich so etwas wie ein spezifisch asiatisches Bildergedächtnis geben kann, aus dem heraus ein Film wie „The Isle“ seine stilistische Dringlichkeit gewinnt. Dazu gehören Distanz, Gewalt und eine schockgefrostete Emblematik der Vereinsamung, zu der die besagten Regisseure keinen Bezug mehr finden außer Verachtung.

Diese Mittel haben im asiatischen „Extreme Cinema“ der letzten Jahre – wenn man denn in einer bestimmten filmischen Form des aktuellen japanischen, koreanischen oder thailändischen Kinos gleich einen gesamt-asiatischen Brutalismus lesen will – immerhin die Qualität entwickelt, ästhetische Zustände in einer kalten, aber ergreifenden Bildsprache erzählbar zu machen. Seltsame, verstörende, abstoßende Sinnlichkeitsfragmente, die das Inhumane und das Schöne so zwingend zur Überlagerung bringen, dass sich so etwas wie eine „poetische Abstraktion“ einstellt, wie Ki-Duk seine filmische Praxis einer „Topografie des Psychosozialen“ nennt. Wenn Hee-Jin und Hyun-Shik im Chaos ihrer gegenseitigen Abhängigkeit irgendwann zum Angelhaken greifen, entlädt sich die Unverhältnismäßigkeit zwischen Psyche und Sozialkontinuum gleich kathartisch.

Hyun-Shik unternimmt einen weiteren Selbstmordversuch, als er sich von der Polizei entdeckt glaubt, schluckt ein Bund Angelhaken und reißt sie sich aus dem Körper. Wieder rettet Hee-Jin ihn. Und wie beim tranchierten Fisch führt die Erhabenheit der Agonie auch hier zu einem Akt der Gnade: der Vereinigung der Körper. Das Hecheln der Todeskampfes geht über in lustvoll-orgiastisches Stöhnen. Auch die Angelhaken haben etwas sehr Wirkliches in dieser schmerzvollen Isolation: Zusammengelegt ergeben zwei ein blutiges Herz.

In seiner visuellen Verbindlichkeit tangiert „The Isle“ also immer wieder neuralgische Problemzonen des Miteinander, die man durch die Filme von Kitano & Co bisher als scheinbar typisch japanisch verstanden geglaubt hatte: Diese Störung vermittelt sich bei Ki-Duk aber eben nicht primär anhand der denunziatorischen Gewalt gegenüber Frauen – auch wenn die in seinen Filmen fast immer Prostituierte sind. Um die Frage, in welchem Kontext die männliche Gewalt in Ki-Duks Filmen funktionalisiert wird, zu beantworten, stößt man zwar auf seine prägnanten Bilder. Doch die Isoliertheit der einzelnen Sequenzen erzeugt ein taubes Klima der Ohnmacht in „The Isle“. Ki-Duk versucht kaum zwischen den Einstellungen zu vermitteln; nie stellt sich Kommunikation über die Montage her, sodass der Film sukzessive zu einem unheilvollen Groove findet.

Das Ideal der Liebe wird bei Ki-Duk schließlich zum ambivalenten Bild einer totalen Naturgläubigkeit, in dem aber auch die harte Symbolik der Eröffnungssequenz nachhallt: als Übereinkunft von Körper, Geist und Natur. Der Mann kann erst mit der Frau eins werden, als ihr Körper bereits mit der Landschaft verschmolzen ist. Das Dämmern des Todes ist die letzte Zuckung des erfüllten weiblichen Körpers.

„The Isle“. Regie: Kim Ki-Duk. Mit Suh Jung, Kim Yoo-Sik u. a., Korea 2000, 82 Min.