Im Marionettentheater

Bis das „wirklichwahre Leben“ beginnt: Peter Handke schickt „die Frau“ durch die Sierra de Gredos und löst das Epochenproblem – der utopische Abenteuer-, Reise- und Liebesroman „Der Bildverlust“

Eine Auserwählte von fabulösem Welt-Erfolg, aber glücklich ist sie doch nichtSowieso werden nur die Betroffenen verstehen, dass da überhaupt Gefahr ist

von FRAUKE MEYER-GOSAU

Tut man ja eigentlich nicht, so was: eben schon mal hinten im Buch nachgucken, wie’s ausgeht. Und wenn doch, macht man’s ja eigentlich nur, um zu sehen, ob es wohl so spannend bleibt, wie es angefangen hat. Oder ob das Ende auch wirklich gut ist: tröstend, lohnend. Oder weil man kaum glaubt, dass bis zum Schluss noch so erzählt werden kann wie zu Beginn: so federnd, leicht, mit schnellen Wechseln – so viel versprechend wie in Peter Handkes neuem Roman „Der Bildverlust“. In diesem Fall hat die Neugier aufs Ende allerdings wohl auch mit dem Umfang zu tun. Wird man sich die 759 dicht bedruckten Seiten, diese Mordsmarathonpapierstrecke lang, bei der Stange halten?

Aber hat man dann wirklich in die letzten Seiten hineingelinst, denkt man: Na gut! Da kann sich Handke offenbar noch nicht so richtig trennen vom Riesenwerk und seinen Figuren und baut erst einen Schluss und dann noch einen und noch und noch einen dazu. Aber immer noch ziemlich guter Dinge, fast vergnügt. Und vergnügt kann er da wohl auch sein, der Bucherzähler! Denn am Ende kriegt ja der eine Held, „der Autor“, seine Heldin, „die Frau“ – nachdem er sie den ganzen langen mühseligen und sonderbaren Irr-Weg durch die Sierra de Gredos, durch Sorgen, Not und Gefahr, so tapfer hindurcherzählt hat. Und dann ist das Licht aus, und beide sind glücklich. Und das ist doch schön.

Also in aller Ruhe von vorn, wird schon gut gehen. Und für die erste, von der Länge her auch nicht eben mickrige Etappe braucht es da sowieso keine Ermutigung – das macht der Roman schon ganz allein. Denn da ist, erst mal, „die Frau“. Eine stabile Person, nicht mehr jung, beileibe nicht alt, die macht sich in ihrem dunklen Haus für eine Reise fertig. Eine Bankerin ist sie, und nicht irgendeine. Herrscherin über ein Finanzimperium, das ihren Namen trägt, aber ihre Arbeit tut sie meist zu Hause, ein bisschen entfernt von der „nordwestlichen Flußstadt“, in der ihre glitzernden Bürotürme stehen. So mächtig ist sie, dass sie dort kaum noch selbst erscheinen muss, und das bewirkt etwas in ihrer Branche ganz Unübliches: Sie hat Zeit. Kann sich um die Natur kümmern und, ebenso liebevoll und distanziert, die Menschen in ihrer Gegend beobachten: den „Stadtrandidioten“, den „Möchtegernliebhaber“, der sie mit seiner Zuneigung mal inbrünstig, mal aggressiv verfolgt. Und daneben all die ganz normalen Leute, die ein- und wieder ausziehen, sich streiten, einander schlagen, einander verlassen wollen und es dann doch nicht tun. Beschauliches Leben einer mächtigen Frau allein.

Aber irgendetwas daran genügt ihr nicht mehr. Einen „Autor“ hat sie sich geheuert, der soll ihre Lebensgeschichte aufschreiben, ein Buch nicht zuletzt gegen die unzähligen Legenden, die über sie im Umlauf sind. Und um dies Männlein, einen seltsamen Fremdling, in der Sierra de Gredos aufzusuchen, wo er allein und abgeschieden lebt, macht sie sich eines frühen Januarmorgens auf den Weg – dieser Weg, wie sich zeigen wird, ist auch das Ziel der Erzählung. Denn Handkes „Bildverlust“, ein utopischer Abenteuer-, ein Reise- und Liebesroman, ist eben auch ein Stationendrama. Ein Mensch gerät in höchste Gefahr und kommt nicht darin um, weil er zu sehen lernt: seine „Schuld“. Ohne den Schutz der inneren Bilder, die sie mit der Welt und ihrer eigenen Geschichte verklammerten und die sie schließlich verliert, kann „die Frau“ danach doch weiterleben: als nun in allem ganz und gar Fremde, ohne Interesse an der dinglichen Welt. Hinabgestiegen ist sie nach dem Ablauf von, siehe da!, neun Monaten aus der gefährlichen Sierra de Gredos – als „Überlebende“ wird sie keine Bankerin mehr sein. Und was dann? Eine Liebende.

Kurios? Kurios! Und einfach hinreißend erzählt von Peter Handke und dem „Autor“ – solange hier erzählt wird. Solange „die Frau“ sich nämlich noch in der Annäherung auf das Zentrum des „Bildverlusts“, ein tiefes, düsteres Tal in der Sierra, befindet. Solange es noch nicht nicht um quasireligiösen Weltanschauungseifer geht, solange also noch nicht gepredigt wird. Nicht, dass es in der Phase der Anreise auf die Hondareda- bzw. Hondoneda-Welt (der „Autor“ will sich da auf einen Namen nicht festlegen) von ideologisierenden Zuschreibungen, Verwerfungen und Apotheosen nicht auch schon gewimmelt hätte. Aber das gehörte gewissermaßen noch zum Bild, dem „der Frau“ nämlich, die, neben allen anderen Eigenschaften, auch mit einem „Sendungsbewußtsein“ behaftet ist – eher ironisch wird das eingangs gesagt. Und wird da auch immer in Schach gehalten von skurrilen Szenerien, absonderlichen Begegnungen.

Vor allem aber wird man gut 250 Seiten lang noch mit so unterschiedlichen Auskünften über die Auftraggeberin des „Autors“ beschäftigt, dass man alle Sinne voll zu tun hat, sich ein Bild von ihr zu machen (jaja: ein „Bild“!). Denn was kommt da nicht alles zusammen in dieser Figur: geboren in einem „wendischen“ Dorf, irgendwo im Osten also, in dem es aber, um die Wende des ersten Jahrtausends herum, auch mal einen arabischen Einschlag gegeben hat – daher also die schönen Augen „der Frau“, tiefschwarz. Weswegen auch sie und ihr „verschollenes Kind“ fast natürlicherweise einen Hang zum Arabischen haben: Ein Arabisch-Lehrbuch, mit dem einst das Kind sich beschäftigte, begleitet „die Frau“ auf ihrer Reise, und „der Autor“ versäumt nicht, für alles Mögliche die arabischen Wörter einzustreuen. Aufgewachsen ist sie, die „zum Beispiel ‚Ablaha‘, ‚Aruba‘ oder ‚Ahada‘“ heißt, bei den Großeltern, zusammen mit ihrem jüngeren Bruder. Die Eltern sind, mit einem noch säuglingshaften zweiten Sohn, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und sie ist auf ihrem Dorf „eine Obstdiebin“ geworden, eine, die sich um ihren Bruder kümmerte und die, um ihn versorgen zu können, „wirtschaften“ lernen wollte und so schließlich an die Geldwirtschaft kam. Aber was hat sie nicht alles gemacht inzwischen, wo ist sie nicht überall gewesen, diese „fröhlich Eltern- und Heimatlose“, „Wilde“, „Fadenzieherin und Puppenspielerin“, die Frau mit „Feinden“ auf der ganzen Welt, deren Geheimnis und Schutz ihre „Bilder“ sind: „Mit den Bildern hielt sie sich die Angreifer nicht bloß vom Leibe. Sie schlug sie damit zurück. Das jeweilige Bild diente ihr ebenso als Rüstung wie auch, sooft es um mehr ging als um friedliches Entwaffnen, als Waffe.“

Früher einmal war sie die gefeierte Hauptdarstellerin eines mittelalterlichen Ritterfilms gewesen, eine Bilder-Macherin also auch sie. Ein andermal hat sie einen Reiseführer verfasst, nicht zufällig wohl das „Handbuch der Gefahren in der Sierra de Gredos“. Eine Selbst-Darstellerin, Bilderfahrene und Reisende ist sie nicht nur von Berufs wegen immer gewesen, vielmehr von Natur aus ein Tausendsassa, ein Überall-und-nirgends-Mensch. Mit kleinen und größeren Scharten freilich: das Kind verschollen, der Bruder ein Terrorist („Gewalt gegen Sachen“), der eine Gefängnisstrafe verbüßt, bevor er sich, nun zwecks Gewaltausübung gegen Menschen, in seine „Wahlheimat“ aufmacht, eine Gegend, die Handkes idealischem „Jugoslawien“ im Kriegszustand verdammt ähnlich sieht. Und dann war da noch ein Lebensgefährte, der sich während ihrer Schwangerschaft davonstahl. Sind diese Informationen beisammen – und das geht nicht schnell in diesem lange so schön sprunghaften Buch –, dämmert einem allerdings ein leider wohlbekanntes Modell: das von der Frau mit fabulösem Welt-Erfolg, hundert großen und kleinen Talenten, von hinreißendem Aussehen, einer Auserwählten – aber glücklich ist sie doch nicht! Nicht jedenfalls, solange sie dem Erfolg verschworen bleibt. Denn tief drinnen sitzt „die Schuld“, der muss sie erst begegnen. Dann aber – wenn sie’s überlebt – werden die falschen Werte abfallen und das „wirklichwahre“ Leben beginnen.

Auf Leben und Tod geht es im „Bildverlust“, von Anfang an. Zuerst spürt man’s an den Zeichen aus der Natur – ein Wald, der von einem Orkan niedergelegt wurde, eine Igelmutter, die zu Füßen „der Frau“ förmlich explodiert –, dann folgen die menschengemachten Zeichen: Bomber ziehen auf, „die Frau“ kommt in die tödliche „Zone“, ins Kriegs- und Krisengebiet. Und der Roman tritt in seine religiöse Phase. Die hält lange, lange an, und ein Bildverlust tritt ein, der den Text selbst befällt: zugunsten von Tiraden. Drei Ortschaften muss nämlich die Frau auf ihrem Stationen-Weg durchmessen: „Nuevo Bazar“, „Pedrada“ und endlich einen Talkessel mit der Ansiedlung der Hondaredos. Und die Gefahr lauert überall, nicht nur von den Bombern (die am Ende alle drei Wohnbezirke dem Erdboden gleichgemacht haben werden), auch von den zusammengewürfelten multinationalen Menschengruppierungen; ihr persönlicher Haupt- und Oberfeind erscheint „der Frau“ ohnedies immer wieder. Den kenntlichen Menschen-Gegnern freilich kann sie widerstehen, selbst wenn sie einmal aus dem Hinterhalt gesteinigt wird. Da muss sie nur einhalten, sich umwenden und den Angreifern ins Auge blicken – gleich wandelt sich alles! Der Gefahr aber, die, technologisch hoch gerüstet, aus der Ferne kommt und ihre deindividualisierenden universalistischen Gesetze noch im entferntesten Weltenwinkel durchsetzen will – dieser Gefahr kann selbst die Weltbankfrau nicht begegnen. Und sowieso wird niemand außer ihr und den Betroffenen verstehen, dass da überhaupt eine Gefahr ist. Dass nämlich das totalitäre Böse hereinbricht und den Frieden, die respektvolle Achtsamkeit füreinander niederbombt: diese kleine, stille, in den Augen der Angreifer aber einfach nur verkehrte Welt, die sie sich behelfsmäßig – Vertriebene aller Herren Länder! – im Fast-schon-Verschwundenen errichtet haben.

Aus der Perspektive der Frau, der eines „Beobachters“ (der alle Insignien der ubiquitären westlichen Medienmacht an sich hat und dennoch, durch die Liebe!, für einen Moment zum richtigen Sehen findet) sowie der „des Autors“ muss der Leser nun vielhundertseitenlang Litaneien über Charakter und Bedrohung der freiwillig kargen kommunitären Denk- und Lebensweise ertragen. Und was anfing wie eine zwingende Retro-Utopie von Andrej Tarkowski, endet außer Rand und Band. „Die Frau“, die bei den Hondonedanern die einzig wahre „Anschauung“ gefunden und sich in deren Fremd- und Vertriebensein selbst erkannt hat, verliert darauf ihre schützenden Bilder, begegnet ihrer „Schuld“ und kommt fast zu Tode. Ersteht aber, von unter riesigen Farnen tief schlafenden Soldaten umgeben, wieder auf – gereinigt, befreit: Happy End mit „dem Autor“ in der Mancha!

Reden wir nicht von Handkes Koketterie, die den „Autor“ immer wieder fragen lässt, ob denn dies oder jenes schöne alte deutsche Wort noch im Gebrauch sei. Und vergessen wir eine Gesine Cresspahl, die einst ihren „Genossen Schriftsteller“ beauftragte, ihr bei der Suche nach der verlorenen Geschichte beizustehen – im „Bildverlust“ geht es nicht ums Suchen und Forschen, einen Sinn hinter dem Leiden, sondern ums Behaupten, Preisen und Verdammen. Den Sinn haben die Macht- und Medieninhaber hier längst gefressen. Vergessen wir aber auch Miguel de Cervantes, dessen „Don Quijote“-Roman hier oberflächlich manches nachgebildet und an Anspielungen geschuldet ist. Wohl wahr, Handkes „Frau“ ist, nicht anders als Don Quijote für Cervantes, ein Sprachrohr für die Empörung und Resignation über eine fortschreitende Dekadenz, den Verlust der Ideale des Einfachen, Bodennahen, nicht Entfremdeten. Was aber bei Cervantes kritischer Abstand war – nicht zuletzt in einer souveränen Komik, die auf der Unverhältnismäßigkeit von Kampf-Ziel und Mittel beruhte –, bei Handke gibt es nur die Nähe-Suggestion eines Predigers mit zunehmend sich überschlagender Stimme. Der allerdings einer Ein-Mann-Sekte vorsteht, denn Einsamkeit gehört hier unweigerlich zur Aura des Tieferblickenden.

Ach, das Anfangs-Leseglück! Und dann der Sturz, die Fixierung aufs ideologische Streckbett. Schon das keine schöne Erfahrung. Doch kurz vor Schluss öffnet sich plötzlich einen winzigen Spalt breit, für ein paar kurze graue Sätze, der Roman-Vorhang, und hinter der vermeintlichen „Puppenspielerin“ lugt ihr Marionettentheaterdirektor Peter Handke hervor. „An ihr“, sagt er, „der so ordentlichen wie kühnen Abenteurerin, sollte sich gemäß der Geschichte der allgemeine Bildverlust erfüllen“, das „Epochenproblem“. Ah ja. Eine ideologische Programmschrift in Romanform also, 759 Seiten Agitations- und Umkehrtheater. Und man beginnt zu frösteln. Nicht wegen der schönen Lebenszeit, die darüber hingegangen ist. Sondern wegen dieser so einzigartigen Fähigkeit zu erzählen, der man so lange bei der Selbststrangulation zugesehen hat. Und man trauert: ein Handkeverlust.

Peter Handke: „Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 760 Seiten, 29,90 €