Drin und trotzdem draußen

Etwas Besseres als den Tod finden wir doch überall: Mehdi Charef spiegelt mit seinem neuen Film „Marie-Line“ einmal mehr die Fremdheit der Migranten und die Angst der Einheimischen wider

„Marie-Line“ ist ein Film über Verrat und Hoffnung am Endeder Nahrungskette

von BIRGIT GLOMBITZA

Marie-Line hat es gleich gesehen. Bei den Tiefkühlgerichten stimmt etwas noch nicht. Sie steigt von ihrem elektronischen Putzwagen und wischt energisch ein paar Fingerabdrücke von den hell erleuchteten Glasscheiben, hinter denen Pizzas, Frühlingsrollen und Nasi Goreng wie Reliquien leuchten. Jede Nacht zieht die Truppenführerin mit ihrer Putzkolonne durch eines dieser monströsen französischen Kaufhäuser, in denen die Warenwelt vom Brautkleid bis zur Hundehütte einen bizarren Querschnitt kollektiver Sehnsüchte abgibt. Ein gespenstischer Ort. Vor allem nachts. Wenn die Dinge für sich stehen und von der Babyrassel bis zur Lesebrille ein prototypisches Verbraucherleben markieren, das, so trostlos es auch sein mag, immer noch besser ist als gar nichts. Besser als der Tod.

Bei George A. Romero würden jetzt Zombies stellvertretend für alle Verdrängten an den Schaufenster kratzen, um endlich ins Kaufhaus zu dürfen. Bei Mehdi Charef, der 1985 mit seinem Debüt „Tee im Harem des Archimedes“ den ersten Klassiker des „Cinema du métissage“ vorstellte, leben sie noch, sind schon „drin“ und haben doch kaum was davon. All die Frauen in hellblauen Kitteln. Illegale, für die Postkolonialismus oder Globalisierung nicht mehr bedeutet als der Umstand, dass sie in Frankreich genauso gut schwarz putzen können wie in England oder Deutschland. Sie heißen Meriem (Fejria Deliba), Marnia (Selma Kouchy) oder Maina (Antonia Malinova), sie kommen aus Albanien, Tunesien oder Algerien. Und manche von ihnen würden sich eher aufhängen als in ihre Heimat zurückkehren. Wie Meriems Nichte, die beim Versuch, sich umzubringen, die halbe Stromleitung runterreißt und der wütenden Marie-Line (Muriel Robin) viel Ärger macht.

Wie „Tee im Harem des Archimedes“ (1985) oder später „Miss Mona“ (1986) gehört auch „Marie-Line“ in dieses „Kino zwischen den Kulturen“, spiegelt es die Fremdheit der Migranten und die Angst der Einheimischen wider. Doch vor allem aber ist Charefs jüngster Film geprägt von der nervösen Aufmerksamkeit seiner Hauptfigur. Von ihrem inspizierenden Blick und von ihrer Unruhe, nicht nur jederzeit ihre Vormacht als Aufsicht, sondern auch alle Aussichten auf einen Aufstieg in den „höheren“ Wachdienst verlieren zu können. Deshalb passt Marie-Line auf und die Kamera bleibt ihr auf den Fersen. Auch die Geschichte bleibt so dicht an der Titelheldin, dass kein Platz bleibt für dramaturgische Schlenker oder abschweifende Nebenhandlungen.

Die Frau im Fokus ist um die vierzig. Mit ihrem gedrungenen Körper hat sie gelernt, sich durchzuboxen, seit sie denken kann. Marie-Line, eine Gelegenheitsrassistin mit einem rührenden Fimmel für den Schnulzensänger Joe Dassin. Eine, die sich nicht ewig zusammenstauchen lassen will und dennoch ihrem Chef hin und wieder einen blasen soll, weil er ihrem Mann eine Mitgliedschaft in der Nationalen Front besorgt hat. Nordafrikaner, Polen, Kurden, „Pack“ kötert Marie-Line und bringt es doch nicht übers Herz, die schwarzafrikanische Familie aus der Umkleidekabine zu schmeißen. Weil sie weiß, dass draußen die Polizei mit den Abschiebepapieren wartet. Und weil es draußen regnet und für die Jahreszeit viel zu kalt ist. Irgendwann wird das Versteck trotzdem entdeckt, die Eltern werden verhaftet, ihr Kind bleibt an Marie-Line hängen. Wie überhaupt alles, denkt sie, und muss sich auch noch von einer Lehrerin beschimpfen lassen: „Seit wann kümmern sich Faschos um afrikanische Kinder?“ Auch die Albanerin, die ihr Baby ausgerechnet dann bekommt, als sie bei der Reinigung im gläsernen Kundenaufzug stecken bleibt, kostet die Putzaufsicht Nerven. Doch die Chefin zögert nicht, holt den Gabelstapler, rammt die Tür auf. Und natürlich flucht sie dabei.

„Marie-Line“ ist ein einfacher Film über Verrat und Hoffnung am Ende der Nahrungskette. Einer mit dem Zeug zu einem großen proletarischen Drama. Mit einer richtigen Heldin und einem Krieg, der nicht zu gewinnen ist, der sich nie lohnt und doch der einzige Weg bleibt, etwas Besseres zu finden als den Tod.

„Marie Line“. Regie: Mehdi Charef. Mit Muriel Robin, Fejria Deliba, Valérie Stroh, u.a.. Frankreich 2000, 100 Min.