Ein Terrorist wird geboren

Auf dem Foto sieht er deutlich jünger aus als auf den Bildern, die seit September 2001 über den arabischen Fernsehsender al-Djazira verbreitet werden. Angeblich stammt diese Aufnahme von Osama bin Laden aus dem Jahr 1996, als er noch nicht abgetaucht war und sich auch noch nicht so viele Geheimdienste für ihn interessierten. Sein Bart wirkt dichter, die Wangen scheinen voller zu sein.

Die Aufnahme ist nicht dem Familienalbum entnommen. Sie taucht auf dem ersten Haftbefehl auf, den Interpol zur Ergreifung bin Ladens ausgestellt hat. Das vertrauliche Dokument mit der Nummer 1998/20232 ist nur für kriminalpolizeiliche Behörden auf der ganzen Welt bestimmt. (siehe Abbildung)

Wenn man das Schriftstück überfliegt, fällt eines auf: Es unterscheidet sich in vielen Punkten von der offiziellen Version der erkennungsdienstlichen Akte von Interpol, die über die Presse und die Internetseite der Behörde für polizeiliche Zusammenarbeit publiziert wurde. Diese offizielle Version enthält keinerlei Hinweis auf die Anklagepunkte gegen den Kriminellen, keine Angaben darüber, wann der Haftbefehl ausgestellt wurde, und vor allem keinerlei Nennung des antragstellenden Staates, also der Regierung, deren Behörden Interpol als erste ersucht haben, das entsprechende Prozedere zur Festnahme in Gang zu setzen.

Das ist in der Tat sehr eigenartig, aber es gibt gute Gründe dafür . . .

Wie sich zeigt, wurde der erste Haftbefehl von Interpol gegen Osama bin Laden nämlich am 15. April 1998 erlassen, und zwar auf Bitten des libyschen Innenministeriums! Die Justizbehörden in Tripolis hatten zunächst einen internationalen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Das Dokument mit der Nummer 127288/1998 wurde am 16. März 1998 an den Sitz von Interpol in Lyon geschickt. Dort wurde das Verfahren für rechtmäßig befunden und einen Monat später ein eigener Haftbefehl erlassen, der an sämtliche Polizeibehörden ging. Dieses offizielle Schriftstück belegt, daß die Vereinigten Staaten zwei Jahre nach dem Attentat auf die amerikanischen Einrichtungen in Dharan[1]noch immer nicht offiziell nach Osama bin Laden fahndeten, obwohl er bereits als Hauptverdächtiger für diesen Anschlag genannt wurde, obwohl er am 28. Februar 1998 eine fatwa gegen den Westen und gegen Amerika verkündet hatte und nach Annahme der Vereinigten Staaten am Anschlag auf das World Trade Center vom Februar 1993 beteiligt gewesen war. Die amerikanischen Justizbehörden suchten also noch immer nicht nach der Person, die das State Department schon 1996 als „wichtigsten Geldgeber weltweit für islamistisch-extremistische Aktivitäten“ bezeichnet hatte.

Was bin Laden zur Last gelegt wird und das Verfahren in den Augen der Libyer rechtfertigt, ist der Mord an zwei Deutschen am 10. März 1994. Auch dieser Punkt sorgt für Überraschung und bringt eine alte Geschichte wieder aufs Tapet. Bei den beiden deutschen Staatsbürgern handelt es sich um Silvan Becker und seine Ehefrau, kein gewöhnliches Paar also, sondern deutsche Geheimagenten, zuständig für Einsätze in Schwarzafrika und den Anti-Terror-Kampf.[2]Sie unterstanden dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Identität ihrer Mörder wurde nie aufgedeckt. Dabei wußten Interpol und sämtliche westlichen Justizbehörden schon im April 1998, daß Osama bin Laden der Verantwortliche war, und theoretisch hätten sie alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um ihn festzunehmen.

Warum ist die Regierung von Oberst Gaddafi die einzige, die Osama bin Laden auf den Fersen ist? Hat der libysche Staatschef den internationalen Terrorismus nicht selbst unterstützt? Die Antworten ergeben sich unmittelbar aus der Geschichte Libyens und Großbritanniens.

Am 1. September 1969 stürzt eine Gruppe junger progressiver libyscher Offiziere König Idriss Senussi, als dieser zu einer Thermalkur in der Türkei weilt. Sofort steht in London das Barometer auf Sturm. Die Senussi-Monarchie ist der Protégé Großbritanniens. Die Welt entdeckt das noch jugendliche, aber entschlossene Gesicht des damals 28jährigen Moammar Gaddafi. Auch wenn der Mann später deutliche diktatorische Neigungen an den Tag legen sollte, wacht er in den ersten Stunden seiner Herrschaft vor allem darüber, daß die Reichtümer neu verteilt werden und eine wirtschaftliche Entkolonialisierung beginnt, die allzu lange auf sich hat warten lassen. Umgehend beschließt er, den gesamten Erdölsektor zu verstaatlichen, an erster Stelle die Standorte von British Petroleum, der der Großteil der Erdölfelder im Land gehört. Ab Februar 1970 hat die Ausschaltung Gaddafis für den britischen Secret Intelligence Service oberste Priorität, und die britischen Finanzbehörden behalten die in der City deponierten Gelder des libyschen Staates ein (auf diese Weise werden 32 Millionen Pfund eingefroren).

Da der Erfolg und die Unterstützung vor Ort ausbleiben, lanciert die britische Krone mehrere Operationen, die allesamt in einem Fiasko enden, wie es sehr viel später der ehemalige oberste Offizier der SAS, George Campbell-Johnson, bestätigen sollte. Wie auch immer: Zwischen London und Tripolis kommt es jedenfalls zum Zermürbungskrieg, der nie wirklich beendet werden sollte. Das ist auch der Grund, weshalb im Lauf der Zeit die Feinde Gaddafis umgehend zu Freunden Großbritanniens werden. Das gilt besonders für die radikal-religiösen Bewegungen in Libyen; sie sehen in Gaddafi einen zu moderaten Führer, der einem ausgesprochen laxen Islam anhängt.

Der Name einer dieser Bewegungen läßt auch heute aufhorchen: Es handelt sich um die Libyan Islamic Fighting Group, eine von 27 Organisationen, die in einer nach dem 11. September vom Weißen Haus und vom Justizministerium erstellten Liste aufgeführt sind. Diese Gruppe libyscher Islamkrieger, deren arabische Bezeichnung al-Djamaa al-Islamiyya al-Muqatila lautet, gehört zu den ältesten Unterstützern von Osama bin Laden. Der derzeit wichtigste operationelle Einsatzleiter der al-Muqatila, genannt Anas der Libyer, gehört zu bin Ladens engerer Garde.

Seit Beginn der neunziger Jahre ist al-Muqatila ein Auffangbecken für „libysche Afghanen“, ehemalige Mudjaheddin-Schüler also, die ab 1979 von den verschiedenen Büros der Muslim-Brüder angeheuert wurden, um mit Hilfe saudi-arabischer Dollars und amerikanischer Stinger Raketen in den Kampf nach Afghanistan zu ziehen. Nach Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen bildeten etwa 2.500 dieser Gotteskrieger libyschen Ursprungs eine radikale Bewegung, mit der festen Absicht, diese in ihrem Heimatland anzusiedeln. Ihre Zielsetzungen ließen keine Zweifel offen: Es galt, sich den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung zu verschaffen und in einem weiteren Schritt die Macht in Tripolls zu übernehmen. Und in jener Zeit nach dem Kalten Krieg hatten die Anhänger dieser Bewegung, wie viele andere auch, ihre rückwärtige Basis im Sudan eingerichtet und ihren Treueeid auf Osama bin Laden geleistet, den mit Abstand reichsten unter allen fundamentalistischen Führern.

Dieser verfolgte ihre Weiterentwicklung mit großem Interesse und gewährte ihnen bereitwillig Unterstützung. 1993 faßte er Libyen sogar als Wahlheimat ins Auge. In der Mitte zwischen Algerien, wo die islamistischen Kräfte an Boden gewannen, und Ägypten, wo die Djamaa und der lslamische Djihad noch über mächtige Netzwerke verfügten, bot sich das Land als Areal zum Aufbau des neuralgischen Zentrums von al-Qaida geradezu an.

Einzelne Angaben in Interpol-Dokumenten beweisen übrigens, daß der Terrorist zeitweise auch seinen Wohnsitz dort hatte. Er soll sich in der kleinen Stadt Jabala-Larde unweit von Benghazi im Osten des Landes aufgehalten haben. Dort war bin Laden auf arabischem Gebiet, und außerdem war das Regime von Oberst Gaddafi nicht Teil der internationalen Völkergemeinschaft und erhielt folglich keine Unterstützung aus dem Ausland, im Gegenteil. Der ehemalige britische Geheimdienstler David Shayler, der der Abteilung MI 5 Nordafrika zugetellt war, hat enthüllt, daß die britischen Geheimdienste die Ausschaltung Moammar Gaddafis im November 1996 vorbereitet hätten – mit Unterstützung der Kämpfer von al-Muqatila. Bei der – gescheiterten – Operation sollte Gaddafi anläßlich eines öffentlichen Umzugs in seiner Eskorte ermordet werden.

Zu jener Zeit also, das heißt zumindest bis 1996, arbeiteten die britischen Geheimdienste, die Teil des Foreign Office sind, aber dem Premierminister unterstehen, mit den wichtigsten Verbündeten von Osama bin Laden zusammen! So erklärt sich schon eher, warum die Dokumente von Interpol lange Zeit in Archiven aufgehoben wurden, zu denen niemand Zugang hatte. Und es handelte sich nicht etwa um eine gelegentliche Zusammenarbeit. Das Mitteilungsblatt der al-Muqatila nämlich, das den Titel Al-Fajr trug, wurde in London von Said Mansour herausgegeben, einem prominenten Mitglied der radikalen Sunnitengemeinde.

Da Osama bin Laden ausgesprochen kriegerische Absichten gegenüber Gaddafi hegte und seine Brüder von al-Muqatila auf die Hilfe Londons setzen konnten, war der libysche Geheimdienst der erste, der seine Verfolgung wirklich in die Wege geleitet hat, und das zu einer Zeit, als bin Laden die Anliegen zahlreicher Staaten unterstützte, von den Ufern der Themse bis zu den ausgestorbenen Vororten Riads.

Ironie dieses verlogenen Pokerspiels: Der libysche Geheimdienstchef Moussa Kusa begab sich Ende September nach London, um seinen Kollegen vom MI 6 (dem britischen Geheimdienst) überaus brisante Informationen zu übermitteln. Es handelte sich um eine Liste mit rund einem Dutzend Namen von in London lebenden al-Muqatila-Mitgliedern, die der britische Geheimdienst aufzugreifen hoffte.[3]

Fußnoten:

Anmerkungen der Redaktion:

1 Am 13. 11. 1995 kamen bei einem Anschlag auf US-Einrichtungen in der saudischen Hauptstadt Riad fünf US-Amerikaner und ein Filipino ums Leben. Ein anonymer Anrufer sagte im Namen einer Gruppe „Golf Tiger“ der Nachrichtenagentur AFP: „Die Operationen werden fortgesetzt, bis der letzte US-Soldat die Stadt verlassen hat.“ Das Attentat wurde neu in Saudi-Arabien entstandenen islamistischen Untergrundgruppen zugeschrieben.

Am 7. 8. 1998 dann wurden durch Bombenanschläge die US-Botschaften in Kenia und Tansania zerstört. 224 Menschen starben, 4.000 wurden verletzt. Anfang November 1998 stellte die US-Anklagebehörde eine 238 Punkte umfassende Anklageschrift gegen Bin Laden zusammen, in der auch der Anschlag in Riad aufgeführt war. Das FBI setzte ein Kopfgeld von 5 Millionen Dollar auf den Gesuchten aus.

2 Die taz berichtete am 24. 5. 1994 über den Fall Becker. Becker war beim Verfassungsschutz im Referat „Arabische Extremisten“ tätig und später für tamilische Extremisten zuständig. Laut taz starb Bekker erst am 10. April, seine Frau am 28. März. Beide seien am 9. März von Unbekannten angegriffen worden und am 10. März in ein Krankenhaus in der Nähe der Stadt Sirte eingeliefert worden. Die taz beruft sich mit ihrer Darstellung auf einen Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz. Der Pressesprecher dieses Amts, Hans-Gert Lange, wird sinngemäß zitiert, seine Behörde habe wenig Grund, die offiziellen Berichte von Untersuchungsbeamten der libyschen Regierung anzuzweifeln, wonach das Paar von Dieben angegriffen worden war. Damals also schienen Libyens Verdachtmomente noch anders gelagert.

Becker hatte eine Urlaubsreise nach Ägypten angekündigt, sich dann jedoch um Einreisepapiere für Libyen gekümmert. Er war via Genua mit der Fähre nach Tunesien nach Libyen gefahren. Becker, so heißt es in dem taz-Bericht, sei mit Ermittlungen zum Attentat auf die Berliner Discothek „La Belle“ 1985 und den Anschlag auf den Pan-Am-Flug über Lockerbie 1988 befasst gewesen. In beide Anschläge ist laut deutschen bzw. schottischen Gerichtsurteilen der libysche Geheimdienst verwickelt. Diese Spekulationen über Becker werden jedoch in einem am 27. 5. 1994 in der taz abgedruckten Leserbrief von Hans-Gert Lange entschieden dementiert.

3 Das Buch „Die verbotene Wahrheit“ ist ab 30. Januar im Buchhandel erhältlich. Es beginnt mit einem Paukenschlag: Der Schilderung eines Treffens mit dem hochrangigen FBI-Agenten John O’Neill, der sich über Behinderungen seiner Arbeit beklagt. Er war mit der Untersuchung von Al-Qaida-Anschlägen betraut und stieß immer wieder auf Verzögerungstaktiken der US-Diplomaten. „Alle Schlüssel zur Zerschlagung der Organisation befinden sich in Saudi-Arabien“, wird er zitiert. Wegen ihrer Erdölinteressen könne oder wolle die US-Regierung nicht handeln. Im August 2001 hatte O’Neill genug vom FBI. Er wurde Sicherheitschef im World Trade Center und starb am 11. 9. unter den Türmen, die von den von Bin Ladens Anhängern gesteuerten Flugzeugen zerstört wurden.

Die lang andauernden, immer wieder unterbrochenen und immer wieder aufgenommen Kontakte zwischen Taliban und US-Regierung, die US-Ölinteressen in Afghanistan, die Verflechtungen zwischen der Öllobby und der US-Administration werden in „Die verbotene Wahrheit“ ausführlich beschrieben, ebenso wie in Teil zwei „Saudi-Arabien, Reich aller Gefahren“ und abschließend die Familienbande und geschäftlichen Verbindungen des Bin-Laden-Clans. Von dieser Seite droht dem Buch, das im Herbst in Frankreich erschien und sich über 60.000-mal verkaufte, jetzt Ärger: Der in Genf lebende Halbbruder Ussama Bin Ladens, Yeslam Bin Laden, droht dem Verlag mit Millionenklagen. Sein Anwalt, der in dem Buch ebenfalls erwähnt wird, hat bereits eine einstweilige Verfügung beantragt. Er will den Autoren sachliche Fehler bei der Beschreibung der Finanzgeflechte nachweisen. Ab 30. Januar ist es auch dort erhältlich. Bis gestern waren noch keine Schwärzungen durchgesetzt.

Jean-Charles Brisard, Guillaume Dasquié: „Die verbotene Wahrheit – Die Verstrickungen der USA mit Osama bin Laden“. Pendo Verlag, 284 Seiten, 18, 90 €