Eine Ausstellung, die allen Fragen ausweicht

Nicht einmal der Ort der Ausstellung wird reflektiert, der aber vielfachen Anlass zur Kontextualisierung böte: In der Holocaust-Ausstellung im Berliner Kronprinzenpalais soll auch die Realgeschichte der so genannten Vergangenheitsbewältigung in beiden deutschen Staaten zur Darstellung kommen

von ANDREAS KRÜGER

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende wurde vor einer Woche im Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden die erste umfassende Ausstellung auf deutschem Boden über die Geschichte des Holocaust eröffnet. Selbst dieser späte Versuch war eher ein Zufallsprodukt: Ursprünglich stand, so der Projektleiter der Ausstellung, Burkhard Asmuss, die Frage im Vordergrund, „wie die deutsche Gesellschaft mit dem Holocaust als Teil ihrer Geschichte seit 1945 umgegangen ist“. Dann aber habe man erkannt, dass die Darstellung der „Rezeption“ nicht ohne eine Darstellung der Geschichte des Holocaust selbst denkbar sei. Nun besteht die Ausstellung aus zwei etwa gleich großen Kapiteln: der Geschichte des Völkermordes an den Juden bis 1945 und der des Umgangs mit dem Verbrechen in Deutschland nach 1945. Anlass des Projektes war der Jahrestag der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, und selbst diesen hätte man beinahe verpasst: „Erst seit ganz kurzer Zeit“, so der Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums, Hans Ottomeyer, bei der Eröffnung, sei die Ausstellung „in Vorbereitung“, denn niemand sonst habe sich dieses „Themas anheischig“ gemacht. Dies klang wie eine vorweggenommene Entschuldigung und führte zu Irritation.

Die wich schnell dem Befremden, nicht nur ob der zahlreichen Ungenauigkeiten und Flüchtigkeitsfehler in den Objektbeschreibungen und Katalogtexten. Die Bedingungen, die zum Aufstieg der NSDAP führten, werden kaum erläutert. Summarisch werden Weltwirtschaftskrise und Versailles genannt. „Bei den Reichtagswahlen Ende Juli 1932“, so der Ausstellungstext „erhielt die NSDAP 37,3 Prozent der Stimmen und wurde stärkste Partei. Am 30. Januar 1933 machte Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler.“ Dass die Verluste der NSDAP bei erneuten Wahlen am 6. November 1932 den Mythos des unaufhaltsamen Aufstiegs der Hitlerbewegung bereits zerstört hatten und diese vor allem deshalb noch erfolgreich war, weil ein entscheidender Teil der alten Eliten in Großlandwirtschaft und Industrie, Militäraristokratie und Großbürgertum zur autoritären Abkehr von Weimar entschlossen war und glaubte, die nationalsozialistische Massenbewegung für sich nutzen zu können, bleibt ungesagt.

Es ist zu loben, dass im anschließenden Kapitel über „Ausgrenzung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung“ der Kampf um Selbstachtung der nun als „Rassejuden“ und „Mischlinge ersten und zweiten Grades“ klassifizierten Menschen in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Frage, warum so viele Nichtjuden bereit waren, dem pseudowissenschaftlichen Unfug von Rassenlehre und Antisemitismus Glauben zu schenken, bleibt ungestellt und unbeantwortet. Eigentümlich unsichtbar bleiben vor allem die Täter selbst. Von Himmler, von Bormann, Frank, Ribbentrop: kein Bild, keine Biografie. Der Lagerkommandant von Auschwitz: nicht einmal namentlich erwähnt. Auch die niedrigeren Chargen, das Wachpersonal der Lager, die Teilnehmer an den Erschießungskommandos: höchstens zufällig im Bild, meistens von hinten fotografiert bei der Ausübung ihres Mordhandwerks – deutsche Nacken. Zu ihrer Motivation, ihren Biografien, ihren Handlungsspielräumen, zu den zahlreichen Mit- und Halbwissern in Bürokratie, Familie, Freundeskreis, zu den zahlreichen Profiteuren von Arisierung, Erpressung und Ausbeutung: kaum eine Silbe.

Hier droht die – sicher gut gemeinte – Konzentration auf die Schicksale der Opfer sich in ihr Gegenteil zu verkehren: Das Verbrechen wird mit den Opfern identifiziert, nicht mit den Tätern. Dabei ist doch gerade die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass „ganz normale Männer“ (und auch Frauen) in einer sich als hoch zivilisiert begreifenden Gesellschaft zu solchen Bestialitäten fähig waren, neben der Trauer um die Opfer eine der entscheidenden Gründe, warum der Holocaust nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt als das Menschheitsverbrechen schlechthin gilt.

Die fatalen Konsequenzen dieser Perspektive werden deutlich, wenn man den ersten Teil der Berliner Ausstellung mit der vor wenigen Jahren unter der Leitung von Martin Gilbert entstandenen Dauerausstellung zum Holocaust im Londoner Imperial War Museum vergleicht. Räumlich ist die Londoner Ausstellung kaum umfangreicher, und doch gelingt es dort, Struktur- und Ereignisgeschichte miteinander zu vermitteln, werden Täterprofile ebenso sichtbar wie das organisierte Chaos einer auf den Führer als zentrale Legitimationsinstanz ausgerichteten Konkurrenzoligarchie. In Berlin ist der einzige Raum, in dem in Ansätzen etwas Vergleichbares versucht wird und der der Wannseekonferenz gewidmet ist, räumlich und ästhetisch von dem eigentlichen Ausstellungsrundgang getrennt – eine problematische Lösung, wie schon die „schwarzen Boxen“ im Bonner „Haus der Geschichte“ zeigten. Dort konnte man durch Wiederaufbau und Wirtschaftswunder wandeln und, ganz im Sinne der 50er, um die dunklen Flecken der NS-Verbrechen einen Haken schlagen. Auch an dieser Stelle verkehren sich also die guten Vorsätze der Berliner Ausstellungsmacher in ihr Gegenteil, denn die säuberlichen Organigramme und minutiösen Protokolle im Studienzimmer zur Wannseekonferenz täuschen leicht darüber hinweg, dass auch diese Etappe auf dem Weg zur „Endlösung“ keineswegs verwaltungsrationales Abwägen von Vor- und Nachteilen war, sondern der Versuch, widerstreitende Interessen, Pläne und (selbst geschaffene) „Notwendigkeiten“ durch eine Projektion auf ‚endgültige Lösungen‘ maximalistisch zu überwinden“ (Götz Aly).

Wie die Londoner, so versucht auch die Berliner Ausstellung, mit einem in neutralisierendem Weiß gehaltenen Modell das Grauen von Auschwitz näher zu bringen. Während man dort jedoch in Hörnischen den Berichten von Überlebenden lauschen kann und so eine Balance zwischen Erinnerung und Distanz geschaffen wird, verharrt der Betrachter in Berlin mit dem Modell einer Gaskammer-„Puppenstube“ und dem selektierenden Blick auf die Häftlingsfotos in der Perspektive des Wachpersonals.

Diese die ganze Ausstellung durchziehende, kühle Perspektive wäre leicht durch eine stärkere Besinnung auf den Ausstellungsort zu durchbrechen gewesen. Wäre es gerade in einer Ausstellung, die sowohl den Holocaust als auch die sich darauf beziehende Gedächtniskultur thematisiert, nicht sinnvoll gewesen, einen Bezug zwischen den Dokumenten zur Bücherverbrennung 1933 und dem Mahnmal zur Bücherverbrennung auf dem nur wenige Schritte entfernt liegenden Bebelplatz herzustellen? Wäre es nicht nahe liegend gewesen, nicht nur einen vergilbten Führer zur Ausstellung „Entartete Kunst“ auszustellen, sondern darauf hinzuweisen, dass das Kronprinzenpalais bis 1937 die Sammlung für moderne Kunst der Nationalgalerie beherbergte? Also zu zeigen, welche Werke aus ebendiesen Räumen in die berüchtigte Propagandaschau gezerrt wurden?

Das Ausweichen vor der Frage des gesellschaftlichen Kontextes führt auch im zweiten, „metahistorischen“ Teil der Ausstellung dazu, dass die Auswahl von Stationen des Umgangs mit dem Erbe des Holocaust, seinen Opfern und seinen Tätern nach 1945, willkürlich erscheint. Hätte gerade diese Ausstellung nicht auch die Probleme der Authentizität von Zeugnissen und die Empathie mit den Opfern problematisieren müssen und können?

Hier hätte sich beispielsweise die Diskussion um die aufgeblasene Kollwitz-Pietà in der Neuen Wache angeboten, wenige hundert Meter vom Ausstellungsort entfernt. Hätte man die ausgestellte Todesfuge Celans mit einem Tondokument ihrer Interpretation durch Ida Ehre zur Gedenkstunde des Bundestages zum 50. Jahrestag der Pogromnacht 1988 verbunden, wäre nicht nur ein Bogen zu der Kontroverse um die Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Jenninger geschlagen, sondern zugleich auf die komplexen Probleme öffentlicher Gedenkreden zum Holocaust hingewiesen worden. Dass gerade der hitzige „Historikerstreit“ von 1986 um Ursachen und Einzigartigkeit des Holocaust dem Vergessen anheimfällt, fügt sich in das Bild einer auf den bundesrepublikanischen Minimalkonsens ausgerichteten Schau. Nicht minder verwunderlich, dass auch ein Hinweis auf den Libeskind-Bau für das Jüdische Museum fehlt, der, obgleich eben gerade kein Holocaust-Museum, das Wissen um die Geschichte des Völkermordes in allen Bereichen seiner Konzeption, von der Grundform über die Achsen bis zu den Voids, reflektiert.

Die Ausstellung schließt mit der Vorstellung der drei international bekanntesten Erinnerungsorte an den Holocaust: Auschwitz, Jad Vaschem und Washington. Auch hier belässt man es bei einer reinen Präsentation, statt die drei unterschiedlichen Gedenkstrategien kritisch auf ihre Bedeutung für das weitere Nachdenken über den Holocaust zu befragen. Dies versucht Peter Reichel im Katalog nachzuholen, verfällt jedoch in allzu einfache Gleichungen, wie „amerikanisch gleich kommerziell“ oder „polnisch gleich katholisch“.

Es mag als – freilich unbeabsichtigtes – Verdienst der Ausstellung gelten, zu zeigen, wie schwer der Umgang mit dem Erbe des Holocaust in Deutschland auch heute noch ist. Der Grund, warum es so lange dauerte, bis sich jemand an diese – zugegebenermaßen äußerst schwierige – Aufgabe machte, hat wohl weniger mit der „dezentralen deutschen Erinnerungskultur“ oder der „Konzentration auf die Erhaltung der Originalstätten“ (Reinhard Rürup) zu tun, sondern damit, dass eine historische Ausstellung ohne die Frage nach Kausalitäten nicht auskommt. Die Dinge sprechen nicht, wie die Ausstellungsmacher meinen, für sich. Eine Ausstellung, die allen Fragen ausweicht, wird ihrer Verantwortung nicht gerecht.

Bis 9. April, Katalog 24 €; siehe auch taz vom 16. 1., Seite 5