Zwischen Scham und Stolz

Jean-Michel Chaumont kritisiert in seiner wegweisenden Studie zur „Konkurrenz der Opfer“ die These von der Einzigartigkeit des Holocaust, ohne dessen Schrecken und Folgen historisch zu relativieren. Damit gibt er der Debatte eine neue Richtung

von CHRISTIAN SEMLER

Die deutsche Ausgabe von Jean-Michel Chaumonts „Die Konkurrenz der Opfer“ verdankt sich einer Konjunktur, die vor allem durch Norman Finkelsteins umstrittenen Angriff auf die „Holocaust-Industrie“ ausgelöst wurde. Das späte Erscheinungsdatum von Chaumonts schon 1997 in französischer Sprache veröffentlichter Arbeit ist sehr zu bedauern, weil sie für uns ein Wegweiser durch unwegsames Gelände darstellen könnte – und das aus vier Gründen:

Zum ersten war Chaumont viele Jahre Aktivist der belgischen Auschwitz-Stiftung, ihm sind die Grabenkämpfe nach 1945 zwischen den verschiedenen Opfergruppen des Nazi-Terrors aus unmittelbarer Anschauung vertraut. Er muss nichts unterstellen, kommt gänzlich ohne Verdachtspsychologie aus.

Chaumont reflektiert seine Rolle als Historiker

Zweitens scheut Chaumont sich nicht, Skrupel und Zweifel, zuweilen auch Überdruss, die ihn nicht nur als Forscher, sondern auch als Zeitgenosse bei seiner Arbeit befielen, offen zu artikulieren. Er reflektiert also seine eigenen Beweggründe, eine für Historiker wie Soziologen nicht eben übliche Verhaltensweise.

Zum dritten begnügt Chaumont sich nicht, falsche Thesen zurückzuweisen und Fehlentwicklungen aufzudecken, sondern unterbreitet, vor allem was Methode und Form des Gedenkens an die Naziverbrechen anlangt, eigene Vorschläge.

Und schließlich, viertens, das Wichtgste: Er erweist sich als philosophischer Kopf. Als gelernter Semiotiker zerlegt er mit stupendem Scharfsinn Beweisführungen und geht buchstäblich keinem Streit aus dem Weg. Chaumonts Werk ist wie die Arbeiten von Finkelstein und Peter Novick („Nach dem Holocaust“), eine Streitschrift, aber sie ist gleichzeitig auch ein Akt des öffentlichen Andenkens, des „Eingedenkens“, wie es der Autor nennt. Seine Sympathie gehört jenen namenlosen Opfern, die nie durch Heldentaten glänzten und auch nie eine Chance hatten, sich als Überlebende ins rechte Licht zu rücken.

Im Zentrum von Chaumonts Studie steht eine Aufdeckungsarbeit. Zunächst zeigt er, vor allem am französischen und belgischen Beispiel, wie schon in den Lagern und erst recht nach der Befreiung sich der Gegensatz entwickelte zwischen den politischen Häftlingen, die auf Grund ihrer Widerstandshandlungen inhaftiert waren und den Inhaftierten, die „nur“ auf Grund ihres Jüdischseins dort waren, den „Raciaux“. Sie galten als Opfer minderen Ranges, sie sprachen deshalb selten über ihre Leidensgeschichte, versuchten, sich möglichst geräuschlos in die Nachkriegsgesellschaften zu integrieren. Sie wurden ihrer Biografie beraubt.

Die „Einzigartigkeit“ als Quelle des Stolzes

Das änderte sich zu Ende der sechziger Jahre, als, von den USA ausgehend, der Massenmord an den Juden als in der Geschichte einzig dastehendes Verbrechen interpretiert wurde. In einer Art negativer Theologie wurde die Einzigartigkeit dieses Ereignisses zum neuen Signum der jüdischen Existenz, ja, wie bei Eli Wiesel, zur Quelle des Stolzes. In systematischer Auseinandersetzung mit den Historikern und Propagandisten der „Einzigartigkeit“ weist Chaumont nach, dass diese Annahme sinnlos ist (jedes historische Ereignis ist epistomologisch gesehen einzig). Die sich anschließenden Debatten seien vollständig inhaltleer und steril. Aber sie sind außerdem noch gefährlich. Führen sie doch – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zur Abwertung des Schicksals anderer verfolgter Ethnien oder Religionen und damit zu fast unlösbaren Konflikten.

Zu solchen Schlussfolgerungen gelangten schon andere Kritiker der „Uniqueness“. Neu ist bei Chaumont, dass er hinter dem fruchtlosen Streit einen Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und den damit verbundenen Status eines privilegierten Opfers entziffert. Er entwickelt den Mythos der „Einzigartigkeit“ als Reaktionsform auf die Leugnung des simplen Faktums, dass es vor allem Juden waren, die in die Gaskammern getrieben wurden. Hinter dieser Erklärung, die sich vor allem einer sorgfältigen Lektüre von Texten verdankt, verschwindet etwas die politische Dimension des „Einzigartigkeitsstreits“, sein Zusammenhang mit der Politik der USA zum Staat Israel und vice versa. Aber darüber haben wir schon mehr als genug gelesen.

Chaumonts Bedeutung als Interpret erschließt sich besonders in jenen Passagen seiner Arbeit, die dem Scham und dem Stolz gewidmet sind. In der Verachtung der „Muselmänner“, die sich scheinbar schon aufgegeben hatten (sie wühlten in Mülltonnen nach Essbarem, wuschen sich nicht mehr etc.) waren sich zahlreiche KZ-Opfer mit ihren Peinigern sogar einig. Sie teilten eine ebenso oberflächliche wie repressive Auffassung von Zivilisation.

Demgegenüber entwickelt Chaumont in enger Anlehnung an das Denken Robert Antelmes eine diametral entgegengesetzte Wertung. Zivilisiert verhielten sich jene, die angesichts des Äußersten einen Funken an Mitmenschlichkeit bewahrten. Hierzu gehört auch Jean-Michel Chaumonts Demontage der verlogenen Saga von Solidarität und Heldentum in den Vernichtungslagern. Wenn er allerdings den Heroismus der Ghetto-Kämpfer im Warschau von 1943 als Selbststilisierung begreift, als Ästhetisierung („es ist schöner, wenn man schon sterben muss, mit der Waffe in der Hand zu sterben“), verwechselt er das Understatement und die Selbstironie eines Überlebenden wie Marek Edelmann mit den so verschleierten Motiven, die auch ihre Berechtigung haben. Insgesamt gesehen beharrt er allerdings zu Recht darauf, dass der bewaffnete Kampf auf keinen Fall zum alleinigen Maßstab für einen würdigen Tod genommen werden darf.

Das Gedenken hat einen einzigartigen Charakter

So gründlich Chaumont die These der „Einzigartigkeit“ destruiert, so nachdrücklich beharrt er darauf, dass es möglich ist, rivalisierende Anerkennungsansprüche von Opfergruppen durch eine kluge, differenzierte Politik der Anerkennung wenn nicht auszugleichen, so doch zu mildern. Zu einer solchen Politik gehört auch die öffentliche Ehrung und das öffentliche Andenken an die Opfer. Solche Formen der Öffentlichkeit hält Chaumont im Gegensatz zu seinem Freund und Mentor, dem Philosophen Tzvetan Todorov, für möglich und geboten. Denn für uns, die wir als Mitglieder von Kollektiven (von der Familie über Klasse und Nation bis hin zu unserer Existenz als Europäer) mit dem Schicksal der Juden verbunden bleiben, hat das Gedenken an den Judenmord tatsächlich einen einzigartigen Charakter. Genauer: es sollte ihn haben.

Die Rivalität der Opfer relativiert nicht das Leid

Jean-Michel Chaumont weist uns darauf hin, sehr genau den politischen Kontext zu beachten, innerhalb dessen die unterschiedlichen Debatten über „Uniqueness“ spielen. Er ist im Fall des Historikerstreits in der alten Bundesrepublik, wo es um den Kampf gegen eine einebnende „Normalisierung“ der deutschen Geschichte ging, klar zu unterschieden von dem, der in den USA die Rivalität verschiedener Opfergruppen bestimmt. An der Erforschung der Wahrheit mitzuwirken ist jeder aufgerufen. Insofern ist es absurd zu dekretieren, Deutsche dürften sich zu kontroversen Fragen, die jüdische Welt betreffend, nicht äußern. Die Frage ist nur, wie sie das tun sollen. Für die richtige Haltung und Methode bildet das Buch Chaumonts ein lehrreiches, eindrucksvolles, bewegendes Beispiel.

Jean-Michel Chaumont: „Die Konkurrenz der Opfer, Genozid, Identität und Anerkennung“. 360 Seiten, zu Klampen, Lüneburg 2001, 34 €ĽZu empfehlen ist auch der im Text erwähnte Band von Peter Novick: „Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord“. 430 Seiten, DVA, München 2001, 22,80 €