Rächer der Barrios

Radical Mestizo: Nenn es Latin Ska, Salsamuffin oder auch Electrocumbia – Bands wie Sergent Garcia und King Changó feiern die neue Kreolisierung

von DANIEL BAX

Hören verbindet. Nur wenig schafft spontan so starke Bande zwischen Gleichaltrigen wie die gemeinsame Erinnerung an Platten, welche der musikalischen Sozialisation einst den entscheidenden Kick versetzt haben. Wenn sich eine Handvoll Jungs (es sind ja meistens Jungs) am Küchentisch auf jene paar Platten verständigen, die einst das eigene Leben verändert haben – mindestens! –, dann gehört das zu den wenigen Generationserlebnissen, auf die man sich heute noch mit einer halbwegs großen Gruppe einigen kann: „Weißt du noch, die erste von Soundso?“

Wer allerdings andere Musik als maßgeblich für seine Hörbiografie betrachtet als die Mehrheit seiner Freunde, der findet sich rasch als Außenseiter wieder. Denn was, wenn die Platte, die einst das akustische Erwachsenwerden begleitet hat, nicht von Kraftwerk, Prince oder Nirvana stammt. Sondern von, sagen wir einmal, Ruben Blades oder Los Van Van? Dann steht man, zumindest in Westeuropa, ziemlich alleine da.

So muss sich Bruno Garcia in den 80ern in Frankreich gefühlt haben. Um ihn herum wurde in der französischen Alternativszene gerade das Mouvement Rock ausgerufen, und Garcia schloss sich kurzerhand der Punkformation Ludwig 88 an, der er über eine Dekade lang treu bleiben sollte. Tatsächlich aber waren es nicht nur The Clash, über die er vom Punk zum Reggae kam, die ihm als Inspiration dienten. Irgendwo lag wohl auch schon immer seine Ader für lateinamerikanische Musik verschüttet.

Garcia, der im Alter von vier Jahren im Gepäck seiner Eltern nach Frankreich kam, lernte als erste Sprache das Spanische. Als er in den 90ern begann, als Rapper und Sänger in den Bars seines Viertels in Paris zu mobilen Sound Systems zu improvisieren, kam er wieder darauf zurück. Um die Verfremdung perfekt zu machen, kombinierte er Salsa-Rhythmen zu seinem spanischen Raggamuffin, die Symbiose taufte er „Salsamuffin“. Einen Künstlernamen musste er sich damals nicht lange suchen: Sergent Garcia, der eher tölpelhafte Gegenspieler von Zorro, dem Rächer der Enterbten, das lag nahe. So hatte man Bruno Garcia schließlich schon in der Schule gerufen.

Zorros Gegenspieler

„Die Basis ist Jamaika, der Überbau aus Improvisation und Chorus kommt aus Kuba“, skizziert Bruno Garcia im Nebenzimmer eines Hotels, in dem er als Gast eines großen französischen Festivals einquartiert worden ist, kurz den Gedanken, der bis heute das Grundgerüst seiner Musik bildet. Der kleine Freizeithut, den er das ganze Gespräch über aufbehält, ist sein Markenzeichen – so wie der Sombrero-Verschluss bei einer ganz bestimmten Tequila-Sorte.

Erste Stücke setzte der Sergent aus der Reserve Mitte der 90er zu Hause im Home-Studio zusammen, und so entstand dort eine erste CD, die vor fünf Jahren auf einem französischen Kleinlabel erschien. Seine Mitstreiter suchte sich Bruno Garcia erst in den Clubs von Paris zusammen, als seine Sound-Ideen bereits feste Gestalt angenommen hatten. Auch darin ist er dem geistesverwandten Manu Chao ähnlich, mit dem er oft verglichen wird., Auch der spielte seine beiden Solo-Platten fast im Alleingang ein, bevor er das Bandkollektiv „Radio Bemba“ um sich scharte, mit dem er dann auf Tour ging.

Den Auserwählten seine konkreten Vorstellungen zu vermitteln, fiel Bruno Garcia nicht schwer: „Es gibt in Paris viele Musiker, die in sehr unterschiedlichen Stilen zu Hause sind, und die einmal Gehörtes sofort umsetzen können. Ich konnte diese Platte vorweisen, die ich zu Hause aufgenommen hatte. Das hat es mir erlaubt zu sagen: Ich habe dieses Projekt, und ich möchte es gerne mit Instrumenten umsetzen. Die Jungs sind mir gefolgt“, resümiert Sergent Garcia seine hearing is believing-Strategie.

So entstand seine Truppe. Damit auch niemand auf den Gedanken käme, sie allzu ernst zu nehmen, gab er seinen Gefolgsleuten den Namen „Los Locos del Barrio“ – zu Deutsch: „Die Verrückten des Viertels“.

Doch längst hat sich sein Projekt verselbstständigt und ist von einem Vehikel für Bruno Garcias musikalische Einfälle zu einem kollektiven Experiment geworden, bei dem er selbstständig dazulernt. „Mit den kubanischen Musikern zusammenzuarbeiten, ist wie eine Lehre für mich“, gibt er sich demütig. „Wir bauen auf den Erfahrungen jedes Einzelnen von uns auf. Als Sänger, der zum Sound System improvisiert, stammen meine Erfahrungen von der Straße. Aber was mich interessiert, ist, zu den Wurzeln vorzustoßen.“

Auf ihrer neuen, inzwischen dritten Platte „Sin Fronteras“ haben Sergent Garcia, das Kollektiv, ihre Recherchen in Sachen Rhythmus hörbar weitergetrieben und sind bei ihren transkaribischen Erkundungen sogar bei kubanischen und afrikanischen Roots gelandet. Im Unterschied zum Vorgängeralbum „Un poquito quema’o“, mit dem Sergent Garcia ihre Gesellenprüfung als Band abgelegt haben, bildet das Konzept einer Hörreise zwischen der afrikanischen Kultur und Kuba, zwischen Spanien und Jamaika eine unterschwellige Dramaturgie auf „Sin Fronteras“. Das blinde Sängerpaar Amadou und Mariam aus Mali, in Frankreich bereits bestens bekannt, und der Flamenco-Gitarrist Balbino spielen folglich nicht unwesentliche Nebenrollen im Gesamtkunstwerk. Das Hauptgewicht aber verwenden Sergent Garcia darauf, den afrokaribischen Rhythmen freien Lauf zu lassen – Kostproben einer Kapelle, die bei ihren Live-Gigs stets den Eindruck vermittelt, als würden sie gerade mal wieder um den Pokal für die „beste Live-Band der Welt“ antreten wollen. Wer sie mit ihrer so enthusiastischen wie dezent choreografierten Show einmal auf der Bühne gesehen hat, weiß, dass sie ernsthafte Titelanwärter sind.

Die Logos der Latinos

Konkurrenz auf dem Spielfeld könnte Sergent Garcia allenfalls von King Changó erwachsen. Auch diese Band jagt, ohne Rücksicht auf Genregrenzen, lateinamerikanische Rhythmen durch den großen Mixer und versetzt sie mit urbanen Stilen wie HipHop, Dub oder Acid Jazz. Und auch King Changó haben sich, zumindest als Namenspatron für ihr neues Album, einen Antihelden zum Schutzheiligen erkoren: El Santo.

Der Mann mit der Maske ist ein lateinamerikanischer Mythos – einer jener legendären mexikanischen Wrestling-Stars, die nie unmaskiert in den Ring stiegen. Halb Comicfigur, halb reale Person, diente er in den 60ern als Hauptfigur von Fotoromanen und Trashfilmen. So wurde der Rächer mit der Silbermaske und dem Polyesteranzug bald in ganz Lateinamerika bekannt als südliches Gegenstück zu Batman und Konsorten. 1983 erlag der reale El Santo einem Herzinfarkt. Doch sein Mythos blieb.

„Als wir vor vier Jahren zum ersten Mal in Mexiko ein paar Konzerte gaben und ich dort die Wrestling-Plakate sah, hatte ich ein Flashback“, gesteht Andrew Blanco, Sänger und Kopf von King Changó. Als Kind war er in Venezuela mit El-Santo-Filmen aufgewachsen. In Mexiko kaufte er sich, von der Erinnerung übermannt, kurzerhand alles an El-Santo-Memorabilia, was er in die Hände bekommen konnte, von Masken und Spielzeugfiguren bis hin zu Magazinen und Videos. Nun erweist er dem Helden seiner Jugendtage mit dem Albumtitel „The Return of El Santo“ weitere Ehre.

So spielerisch, wie der gelernte Grafik-Designer Andrew Blanco die Ikonen lateinamerikanischer Populärkultur zitiert, verfährt seine Band auch mit der Musik. King Changó bedienen sich für ihr Potpourri bei Cumbia-Melodien aus Kolumbien, mexikanischen Mariachi-Trompeten, beim Salsa und bei praktisch allen Spielarten des Reggae.

Die Ursprünge der Band liegen allerdings nicht in Mittelamerika oder der Karibik, sondern im multiethnischen Underground von New York. Dorthin hatte es Andrew Blanco mit 18 Jahren aus Venezuela verschlagen, und dort fand er Anschluss an die Ska-Szene der Stadt. Als Grafiker entwarf er Plattencover und Flyer für Ska-Lokalmatadoren wie die Toasters, bevor er daran ging, sein eigenes Bandmobil zu gründen. Als Bassist sprang ihm sein Bruder zur Seite, alle weiteren Mitglieder von King Changó liefen ihm über den Weg, und mit der Evolution ihres Sounds wuchsen King Changó zum vielköpfigen Party-Orchester an. Für ihr letztes Album liehen sie sich zudem die Bläsersektion von Ozomatli aus, einer befreundeten Band aus Los Angeles, die einen ähnlich breit gefächterten Ansatz wie Sergent Garcia und King Changó verfolgt.

Für Andrew Blanco hat das Spiel mit spezifisch südamerikanischen Pop-Images, das mit der musikalischen Philosophie seiner Band korrespondiert, auch eine politische Dimension. In seinem früheren Leben entwarf der gelernte Grafiker Logos für prominente US-Football-Teams, darunter für die Toronto Raptors, die Florida Panthers und die Detroit Tigers. Heute sieht er im religiösem Kitsch, dem populären Comic-Trash und den Sport-Helden Lateinamerikas subversive Bilder, mit denen er gerne den Mainstream der USA infiltrieren möchte. No Logo? Nein, aber dafür die Logos der Latinos.

Als bricolage bezeichnete Henri Levi-Strauss die Kulturtechnik des Migranten, sich aus verschiedenen Bezugssystemen neue Sinnbilder zu basteln. Immer mehr Bands setzen diese Theorie in Klänge um. „Man findet diesen Diskurs bei vielen anderen Gruppen, die zusammengenommen fast schon eine Bewegung ausmachen: Bei Ozomatli in Los Angeles, bei der Asian Dub Foundation in London oder beim Orchestre National de Barbès in Paris. Es geht darin immer um die Anerkennung eines kulturellen Pluralismus. Früher hätten die Leute vielleicht eher ihre Ursprünge verleugnet. Heute verhelfen sie ihren Doppelkulturen zu neuer Ehre“, bestätigt Bruno Garcia.

Die lateinamerikanische Variante dieser Globalisierung von unten ist durch ihren Bänkelsänger Manu Chao bekannt geworden. Doch hinter ihm stehen Dutzende Bands, von Argentinien bis Spanien und bis vor die Tore von Los Angeles und Paris, die der alternativen Rockszene der spanischsprachigen Welt einen neuen Schub gegeben haben. Eine so globale wie gut aus der Hüfte kommende Migrantenbewegung. Dass Weltenwanderer wie Andrew Blanco oder Kinder von Migranten wie Bruno Garcia darin eine größere Rolle spielen, ist kein Zufall. Doch das prädestiniert sie nicht mehr zur Randerscheinung: Im Zeitalter der Patchworkbiografien wird ihr Eklektizismus zunehmend Normalität. Sie sind die Rächer der Barrios in den Metropolen des Nordens, die mit ihrer Patchwork-Ästhetik den Kosmos der Pop-Kultur erweitern. Und so entstehen Platten, auf die sich kommenden Generationen am Küchentisch spontan werden einigen können.

Sergent Garcia: Sin Fronteras (Labels / Virgin); King Chango: The Return of El Santo (Luaka Bop / Virgin). Zum Weiterhören: Die Sampler-Reihen „Radical Mestizo“ (Revelde discos) und „Fuerza!“ (Virgin). Sergent Garcia auf Tour: 30.1. Berlin, 31.1. Köln, 1.2. Darmstadt, 2.2. Hannover, 3.2. Hamburg