So funktioniert Porto Alegre

Das Volk entscheidet mit: Das Modell des „partizipativen Budgets“ in der brasilianischen Stadt wird weltweit nachgeahmt

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

„Cidadão“ (Bürger) ist auf den Straßen Porto Alegres eine gängige respektvolle Anrede. Wohl nirgendwo in Brasilien ist die politische Kultur so weit entwickelt wie in der Hauptstadt des südlichen Bundesstaates Rio Grande do Sul. Auch bei der Lebensqualität liegt die 1,3-Millionen-Metropole ganz vorne. Porto Alegre ist die Hochburg der Arbeiterpartei PT, eines Zusammenschlusses von Gewerkschaftern, progressiven Christen, demokratischen Sozialisten, Trotzkisten, unorthodoxen Linken und Basisaktivisten. Seit 1989 regiert die PT die Stadt.

Damals waren die Kassen leer und die Gegnerschaft des einheimischen Establishments enorm. Also machte sich die kommunale Parteispitze daran, ihre „Isolation zu durchbrechen“, erzählt Luciano Brunet, der den Prozess von Anfang an begleitete. In Zusammenarbeit mit der Basisbewegung aus den Armenvierteln entstand das „Orçamento Participativo (OP)“, zu deutsch etwa „Partizipatives Budget“, das inzwischen zum Markenzeichen von Porto Alegre geworden ist. „Wir fingen an, den Mangel transparent zu verwalten“, berichtet Brunet. „Die Bevölkerung wurde nach Prioritäten gefragt, die wenigen Mittel in den bedürftigten Stadtvierteln konzentriert.“ So funktioniert das OP bis heute.

Jährlich ab März werden auf Bürgerversammlungen in 16 Bezirken die örtlichen Prioritäten festgelegt. Soll eine Kinderkrippe gebaut werden? Oder ist die Renovierung des Kulturzentrums wichtiger? Oder vielleicht doch die Asphaltierung zweier Nebenstraßen? Parallel dazu beraten Vertreter von Basisbewegungen auf fünf thematischen Foren über die Struktur der Investitionen im Stadthaushalt – derzeit etwa 15 Prozent des gesamten Etats, dessen Löwenanteil aus laufenden Kosten wie Gehältern besteht.

Die Bürger- und Delegiertenversammlungen erarbeiten bis Ende September konkrete Investitionspläne, wobei die Exekutive nur den Umfang der bereitstehenden Mittel vorgibt. Der Bürgermeister präsentiert die Vorschläge dem Stadtparlament, das bis Ende November den Jahreshaushalt verabschiedet. Die Ergebnisse werden zu Jahresbeginn durch Broschüren und Aushänge bekannt gegeben. Jahr für Jahr beteiligen sich rund 30.000 Menschen am OP. Durch diese Form der direkten Mitbestimmung sind Korruption und Vetternwirtschaft in Porto Alegre weitgehend unbekannt.

Konservative Kritiker beklagen, dass Mitglieder der Arbeiterpartei den gesamten Prozess dominieren. Dies sei ein Verstoß gegen in der Verfassung vorgegebene Mechanismen der repräsentativen Demokratie. Für den emeritierten Politologen José Giusti Tavares ist das OP schlicht ein „Machtinstrument der PT“. Für den Intellektuellen Tarso Genro dagegen ist das PO der „Versuch einer radikalen Demokratisierung“, der gerade die sonst ausgeschlossenen Mehrheiten viel stärker einbeziehe und sie nicht zu Stimmvieh degradiere. „Es ist schon beeindruckend, wie selbstbewusst einfache Leute im Stadtparlament auftreten“, bestätigt die PT-Aktivistin Lúcia Simões.

Die hohe Transparenz bei den Entscheidungsprozessen führt zu einer effektiveren Nutzung der knappen Mittel. „Dadurch, dass die staatlichen Ausschreibungen offen gelegt werden, sparen wir manchmal bis zu 30 Prozent“, sagt Iria Charao, die das OP seit drei Jahren auf Landesebene umsetzt. „Außerdem schlagen die Bürger oft originelle oder kostengünstigere Lösungen vor.“ Das von der UNO und selbst von der Weltbank gepriesene OP hat in Dutzenden brasilianischer Städte Schule gemacht und wird in Städten wie Barcelona, dem französischen Saint Denis, Montevideo und Buenos Aires nachgeahmt. Es war auch der ausschlaggebende Grund dafür, dass das Weltsozialforum nun bereits zum zweiten Mal in Porto Alegre stattfindet.