Mit Netzwerken gegen das Elend

Zum Auftakt des Weltsozialforums in Porto Alegre demonstrieren mehr als 50.000 Menschen gegen die geplante amerikanische Freihandelszone

aus Porto Alegre GERHARD DILGER und HANNES KOCH

Im Hauptberuf baut Lucien Wasserkraftwerke in Slowenien. Nun steht der 67-jährige Belgier unter dem südlichen Sternenhimmel im Amphitheater der brasilianischen Stadt Porto Alegre und lauscht einem afrikanischen Chor. Luciens Stadtteilgruppe aus Brüssel hat ihn als Delegierten zum Weltsozialforum nach Brasilien geschickt, das gestern unter dem Motto „Eine andere Welt ist möglich“ offiziell eröffnet wurde. „Fast wie ein Parlament“, sagt Lucien und lässt seinen Blick durch die Menschenmenge schweifen.

50.000, 60.000 Menschen sollen hier sein, sagen die Veranstalter. Delegierte aus fast allen Ländern der Welt, Abgesandte von mehreren tausend politischer Organisationen, Gruppen, Verbänden. Im Gegensatz zum ersten Forum, bei dem 2001 Brasilianer und Franzosen dominierten, sind diesmal auch die Länder Asiens und Afrikas präsent. Und die Organisatoren, darunter die brasilianische Bewegung der Landlosen, haben darauf geachtet, dass die arabische Welt nicht zu kurz kommt. Schließlich sollen die Folgen der Terroranschläge vom 11. September und die mögliche Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts wichtige Themen in Porto Alegre sein.

„Geist von Porto Alegro“

So dürfte es selten eine internationale Zusammenkunft gegeben haben, bei der so viele Menschen aus so vielen Ländern ihre unterschiedlichen Interessen miteinander diskutierten. Und doch ist diese Vollversammlung der sozialen Bewegungen nicht durch allgemeine Wahlen zustande gekommen. Sie repräsentiert vielmehr jenen Teil der Weltbevölkerung, der die neoliberale Form des Globalisierungsprozesses ablehnt. Rund 50.000 Teilnehmer eröffneten das Forum am Donnerstagnachmittag mit einer bunten Demonstration durch die Stadt. Rote Fahnen überall, Trommeln und Parolen gegen die geplante Amerika-Freihandelszone (Federal Trade Agreement of the Americas) FTAA zeigten, was den „Geist von Porto Alegre“ ausmacht: der Konsens, dass die Globalisierung mehr als Schönheitskorrekturen erfordert.

Gerade die Südamerikaner sind angesichts der angepeilten neoliberalen Großvision beunruhigt. Viele lehnen die Freihandelszone ab, die auf Vorschlag und Druck der USA ab 2005 von Feuerland bis Alaska reichen soll. Die jüngsten Erfahrungen in Argentinien spielen bei Skeptikern eine große Rolle: Der Zusammenbruch der dortigen Wirtschaft wird als direkte Folge der Einführung des liberalen Modells unter der Direktive Washingtons interpretiert. Die Dollarisierung, so ist auf der Demonstration zu hören, sei gescheitert. Südamerika müsse nun einen eigenen Weg auf der Basis des südamerikanischen Wirtschaftsverbunds, des Mercosur, suchen.

Die Begrüßungsrede auf der Freilichtbühne am Guaíba-Fluss hielt nach dem Protestmarsch der schnauzbärtige Olívio Dutra, Gouverneur des gastgebenden Bundesstaats Rio Grande do Sul. Für den Politiker der Arbeiterpartei PT sind die Globalisierungskritiker „Erben des fortschrittlichen Denkens, der freiheitlichen Anliegen und der demokratischen Prinzipien“. Sie stünden in der Tradition des Sozialismus, der Befreiungstheologie, des Umweltschutzes und all jener, die sich „in Nord und Süd gegen Unterdrückung und soziale Ausgrenzung“ auflehnten.

Weltelite in Washington

Die Attraktion des Eröffnungstages war allerdings Noam Chomsky. Der US-Intellektuelle verursachte einen großen Auflauf von Journalisten und Zuhörern und sagte, was man vom ihm erwartete: Seit dem 11. September verfolge die Weltelite unter der militärischen Führung der USA ihre Agenda des „Klassenkrieges“ noch entschiedener. „Wir stehen vor der Wahl, uns dem zu unterwerfen oder die Anliegen, die uns bereits vorher wichtig waren, weiterzuverfolgen.“ Auch Chomsky kritisierte die geplante amerikanische Freihandelszone. In Wirklichkeit liege dieses Projekt auf der Linie anderer „extrem protektionistischer“ internationaler Abkommen, durch die Wissen und Technik monopolisiert werden sollten.

Währenddessen bemühten sich die Veranstalter, zu denen auch die Organisation Attac aus Frankreich gehört, um Identitätsstiftung. Für Liberale wie den belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt, der sich für Sonntag angekündigt hatte, und für leitende Funktionäre der Weltbank sei die „Stimmung in Porto Alegre ungeeignet“, sagte Sergio Haddad vom brasilianischen Organisationskomitee. Verhofstadt, der sich seit dem EU-Gipfel von Laeken und den dortigen Demonstrationen im vergangenen Jahr den Globalisierungskritikern angenähert hat, wäre gern gekommen. Nun hat man ihn schlicht ausgeladen – jedenfalls als offiziellen Gast. Das Schaulaufen von großen Politikern fällt somit weit bescheidener aus als ursprünglich erwartet.

Castro auf der Gästeliste

Bereits im Vorfeld hatte eine Einladung der brasilianischen Landlosenbewegung an Fidel Castro für heftige Debatten gesorgt. Ignacio Ramonet, Chefredakteur der Attac-freundlichen Zeitung Le Monde diplomatique, der einen guten Draht zu Castro hat, setzte sich schließlich mit seiner Gegenposition durch: Komme Castro, interessierten sich die Medien nicht mehr für Inhalte, sondern nur noch für Symbole. Vertretern der kolumbianischen Guerilla und der baskischen ETA wurde ebenfalls die Akkreditierung verweigert, da die Gewaltfreiheit ein Grundprinzip des Weltsozialforums ist.

Wie schon im Vorjahr treten dagegen die Gastgeber von der brasilianischen Arbeiterpartei PT massiv auf. Porto Alegres PT-Bürgermeister Tarso Genro feierte das Forum der Kommunalpolitiker als „Fundament für neue politische Beziehungen“. Über 200 Bürgermeister, vorwiegend aus Lateinamerika und dem Mittelmeerraum, hatten drei Tage lang über Maßnahmen gegen die „soziale Ausgrenzung“ diskutiert. Am Mittwoch gründeten sie ein Netzwerk: Als „solidarische Sofortmaßnahme“ werden Genf und Barcelona Medikamente in die argentinische Hauptstadt Buenos Aires liefern, wo viele Apotheken wegen der Wirtschaftskrise nichts mehr verkaufen.

Unter anderem will sich das Netzwerk für den Erlass der Schulden der Entwicklungsländer, den Austausch über erfolgreiche Entwicklungsvorhaben und die verstärkte Einbindung von Migranten stark machen.

Konservative Franzosen

Die meisten anwesenden Bürgermeister kamen aus dem sozialdemokratischen Spektrum, doch aus Frankreich waren selbst Konservative angereist. Der PT-Kandidat für die diesjährigen Präsidentschaftswahlen, Luiz Inácio Lula da Silva, übte in Porto Alegre Kritik an der anderen wichtigen Veranstaltung dieser Tage: dem Weltwirtschaftsforum (WEF), zu dem sich die ökonomische Elite gerade in New York trifft. Das WEF, so Lula, sei von seinem traditionellen Veranstaltungsort Davos in die US-Metropole umgezogen, weil die Stacheldrahtverhaue in der sauberen Schweiz die „Verachtung der Mächtigen für die Armen“ besonders deutlich gemacht hätten.

Während sich gerade die südbrasilianischen Politiker noch um starke Worte bemühten, gingen 350 Obdachlose aus Porto Alegre bereits daran, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Sie besetzten sie ein Bürohochhaus in der Innenstadt.