„Ich bin nicht Catherine M.“

„Nicht vom Sex, vom Sehen bin ich besessen“: Ein Gespräch mit Catherine Millet, Autorin des Buchs „Das sexuelle Leben der Catherine M.“, über Distanz, Körper und Intimität sowie die Kunst Yves Kleins

Interview MONIKA GOETSCH

taz: Madame Millet, das aktuelle Editorial der Zeitschrift artpress verteidigt Ihr Buch. Sex sei nicht notwendigerweise intim, heißt es da, ein Buch über Sex schon gar nicht. Sie haben also kein intimes Buch geschrieben?

Catherine Millet: Durchaus nicht. Natürlich habe ich versucht, das Geheimnis meiner Sexualität zu lüften. Es geht um persönliche, sehr intime Erfahrungen. Aber wenn man etwas niederschreibt, entsteht ein Abstand. Man übernimmt die Herrschaft über die Wörter, wählt aus, lenkt. Alles, was geschrieben ist, hört auf, intim zu sein. Darum offenbare ich meinen Körper nicht, wenn ich über ihn spreche. Ich stelle ihn nicht aus. Die Wörter sind der Filter.

Die Kritiker, auf die artpress sich bezieht, sehen das anders. Ihr Buch und einige Bücher von Kollegen, die sich mit Sex auseinander setzen, sind ihnen zu offenherzig.

Ich weiß. Manche glauben, dass es gefährlich sei, etwas so Intimes zu veröffentlichen. Ich halte das für sehr naiv. Denn abgesehen davon, dass mit dem Text die Intimität aufhört, ist für jeden Menschen etwas anderes intim. Im Übrigen habe ich das Gefühl, in dem Text von jemand ganz anderem zu sprechen als von mir.

Sie sind nicht Catherine M.?

Die Person, die ich bin, wird zerlegt. Eine lebt im Buch, eine hat das Buch geschrieben, eine sitzt hier im Foyer des Hotels Vier Jahreszeiten in München und beantwortet jetzt Ihre Fragen.

Sie haben Distanz gewonnen zu Catherine M.?

Ich hatte schon Distanz. Sonst hätte ich das Buch nicht schreiben können.

Auch Distanz zu Gruppensex und den anderen Praktiken, die Sie beschreiben?

Auch dazu, ja.

Sie machen so freizügig nicht weiter?

Nein. Ich bin überzeugt davon, dass sich die Sexualität im Lauf der Jahre ändert. Die Sexualität einer jungen Frau ist anders als die einer Frau meines Alters. Manche meiner Freunde machen weiter. Aber das ist selten. Die wenigsten bleiben ihr Leben lang dabei. Das Begehren ändert sich, die Objekte der Begierde ändern sich. Darum möchte ich aus meinen Erfahrungen auch keine Philosophie machen.

Zumal manche Männer ältere Frauen nicht so schätzen.

Aus mangelndem Selbstbewusstsein, ja. Dabei haben ältere Frauen oft viel mehr Sex-Appeal als jüngere. Aber zum Glück gibt es genug Männer, die Spaß haben mit Frauen um vierzig und fünfzig. Beunruhigen Sie sich nicht!

Fragt man Sie, warum Sie Ihr Buch geschrieben haben, pflegen Sie zu sagen, dass es „eine innere Notwendigkeit“ gewesen sei. Das Zitat stammt von einem Künstler: Wassily Kandinsky.

Ja, diese Formulierung habe ich immer sehr schön gefunden.

Ganz offen und hingebungsvoll seien Sie an Sex herangegangen, heißt es in Ihrem Buch. Ist das auch Ihr Zugang zur Kunst?

Ja, und ich werde immer offener für jedes einzelne Werk. Früher war ich viel selektiver, viel dogmatischer. Mich interessierte die Theorie. Ich wollte wissen, was zwischen den Kunstwerken passiert. Ich war geleitet von Ideen. Heute fälle ich Entscheidungen über die Ästhetik eines Kunstwerkes auf Grund meiner eigenen Kriterien.

Eine Folge Ihrer ausschweifenden sexuellen Erfahrungen?

(lacht) Sex als Schule der Toleranz? Warum nicht. Der Gedanke gefällt mir ganz gut.

Und wie hat die Kunst Ihr Leben geformt?

Ich habe gelernt, dass das, was man Leben nennt, schon künstlich ist. Komödie, Theater. So habe ich Distanz zum Leben gewonnen.

Die Distanz, die Ihr Buch trägt.

Vielleicht. Aber ich bin auch als Person ziemlich kalt.

Es ist doch nicht kalt, etwas mit Sorgfalt und Genauigkeit zu beschreiben.

Ich bin also nicht kalt? Was für eine erfreuliche Nachricht! Alle sagen immer, ich sei kalt, als Autorin und als Frau.

Eine Frau mit einer scharfen Wahrnehmung.

Viele glauben, ich sei besessen von Sex. Das stimmt aber gar nicht. Ich bin besessen vom Sehen, vom Blick. Ich existiere fast nur durch meine Augen.

Sie schreiben, Sexualität mache blind. An anderer Stelle sehen Sie Ihrem Gesicht beim Orgasmus im Spiegel zu. Es zerfällt.

In Frankreich warnt man Kinder davor, ihr Geschlecht zu berühren, weil das blind mache. Tatsächlich macht es mir manchmal Freude, blind zu sein. Kontakt aufzunehmen mit vielen Körpern, die ich alle kaum unterscheiden kann, weil es Nacht ist oder die Körper sehr eng um mich sind. Aber es ist ganz normal, das Gegenteil dessen zu genießen, was einen normalerweise ausmacht.

Yves Klein, mit dem Sie sich intensiv beschäftigt haben, hat eine Weile lang nackte Frauen mit blauer Farbe beschmiert und einen Abdruck ihres Körpers genommen.

In den Anthropometrien, ja.

Das hat Ähnlichkeiten mit der Art, wie Sie sich der Körper in Ihrem Buch bedienen.

Interessant an den Anthropometrien finde ich ihr Ergebnis. Weil das Ergebnis genau das Gegenteil dessen ist, was der Künstler zu realisieren behauptet. Zunächst hat sich Klein vor allem für die Erotik und das Unsichtbare interessiert. Dann verkündete er, zurückkehren zu wollen zum menschlichen Körper und seinem Fleisch. Die Anthropometrien illustrieren diese Rückkehr. Klein hat die Frauen in, wie er sagte, „lebende Pinsel“ verwandelt. Was davon heute bleibt, sind Spuren, etwas ganz Vergängliches. Die Körper sind verschwunden. Das Berührende an diesen Arbeiten ist, dass diese schönen Körper, zu denen Klein zurückkehren wollte, nur eine Spur gelassen haben, nichts weiter.

Das gilt auch für Ihr Buch.

Stimmt, von den Körpern, mit denen ich zu tun hatte, bleiben nichts als Spuren. Mehr noch als die Anthropometrien fasziniert mich übrigens die Hingabe, mit der Yves Klein seine ganze Person ins Werk gesetzt hat. Klein ist für mich der Archetyp eines Avantgardisten. Ich will verstehen, was jemanden dazu bringt, so extreme Positionen zu ergreifen und Aussagen zu treffen. Klein hat sich hingegeben. Und zwar sehr.

Es gibt dieses schöne Foto, auf dem er aus dem Fenster mehr fliegt als springt, den Sprung in die Leere.

Genau. Das ist ein Symbol seiner Persönlichkeit.

Klein sagte: „Ich bin der Maler des Raumes. Kein abstrakter Maler, sondern im Gegenteil, ein figürlicher und realistischer Maler. Um den Raum zu malen, muss ich mich in ihn begeben, in den Raum selbst.“ Ein Kapitel Ihres Buches ist überschrieben: „Der Raum“.

Ja. Der Raum hat mich immer interessiert. Wie er gesetzt und aufgeteilt wird.

Unter anderem schildern Sie darin eine Reise nach Australien, dorthin, wo Sie von Frankreich weitestmöglich entfernt sind. Sie vergleichen diese Reise in den Raum damit, auf keine sexuelle Grenze zu stoßen. Und fragen sich im gleichen Atemzug, „ob die Freude an eigenen Kindern von der gleichen Gattung der Gefühle wäre“.

Weil ich mich mit dieser Reise nach Australien in den Raum projiziert habe. Und ein Kind zu haben heißt, sich in die Zeit zu projizieren. Also habe ich mich gefragt, ob es eine Verbindung gibt zwischen der Projektion in den Raum und der Projektion in die Zeit.

Wollten Sie die Neugierde darauf, wie es sein würde, ein Kind zu haben, nie stillen?

Doch. Ich wollte einmal ein Kind haben. Aber es wurde nichts daraus.

In einem Artikel über aktuelle Kunst schreiben Sie: „Indem manche Künstler zu dringlich die Realität erforschen wollen, vergessen sie, dass die Kunst Fiktion ist, der symbolischen Ordnung und damit einer anderen Realität angehört.“

Für mich ist dieser Gedanke sehr wichtig. In der modernen Kunst geht es oft um die Grenze zwischen Kunst und Leben. Manche glauben, man müsse die Grenze einreißen, um den Unterschied zwischen Kunst und Leben zu nivellieren. Vielleicht war dieser Gedanke mal notwendig. Aber heute wird die Sache gefährlich. Weil die symbolische Distanz verloren zu gehen droht. Und damit die Möglichkeit, das Reale zu interpretieren.

Ein Beispiel, bitte.

Es gibt Künstler, die sich den Mechanismen des Kommerzes anzunähern versuchen. Sie platzieren ihre Arbeit nicht im Museum, sondern in der Alltagswelt. An einem kommerziellen Ort, in einem Handelsunternehmen zum Beispiel. Ich bezweifle, dass da immer ein Gleichgewicht der Kräfte besteht. Man muss schon ein sehr, sehr starker Künstler sein, um von dieser Umgebung nicht ausradiert zu werden. Gerade der Künstler, der die Logik des Kommerzes kritisieren möchte, kann von ihr völlig vereinnahmt werden.

Was halten denn Sie von pornografischen Bildern, den nackten, kommerzialisierten Körpern der Werbung?

Ich beurteile das nicht moralisch. Aber natürlich sind das meistens sehr mittelmäßige Abbildungen. Wenn in der Kunst und in der Literatur Sexualität zum Thema wird, dann oft als Reaktion auf ebendiese Mittelmäßigkeit.

Ihr Buch folgt dem gleichen Impuls?

Es reagiert eher auf den ideologischen Diskurs der Sexualität. Auf die 68er-Ideologie der sexuellen Befreiung, der persönlichen Erfüllung durch Sex, auf den Hedonismus dieser Zeit.

Können Sie eine aktuelle künstlerische Bearbeitung des Themas nennen, die Ihnen nahe gegangen ist?

Der Film „Intimacy“ von Patrice Chéreau hat mir sehr gut gefallen. Ein distanzierter Film von großem Realismus, ohne Idealisierungen. Im Mittelpunkt steht eine Schauspielerin, mit deren Körper sich die meisten Frauen sehr leicht identifizieren können.

Und der Film war erotisch?

Er hat mich berührt, ja.

Ihrem Buch dagegen wird der Vorwurf gemacht, sexuell, aber nicht erotisch zu sein. Verantwortlich dafür sei ebendiese Distanz.

Mag sein, dass manche Leser enttäuscht wurden. Andere haben mir erzählt, dass sie das Buch sehr genossen haben. Es sei ein Buch, wie man auf Französisch sagt, das man mit einer Hand lesen kann. Sie können sich vorstellen, was die andere Hand macht.

Ihr Schriftstellerkollege Mario Vargas Llosa jedenfalls meint: „Die Wahrheit ist, ihre Orgasmen erscheinen mechanisch, resigniert und oft traurig.“

Vermutlich hat Vargas Llosa etwas missverstanden. Manifestation meines Orgasmus, schreibe ich, seien meine Tränen. Aber nicht Tränen der Traurigkeit. Sondern befreiende Tränen, Tränen der Freude.