Mutter und Wolkenbruch

„Als Kind“: Mario González Suárez, Vertreter der neueren mexikanischen Literatur, erzählt von einer Kindheit auf der Flucht, hin und her gestoßen zwischen den Eltern

Erwachsene sind in der brüchigen Kinderwelt unheimlich wie Naturgewalten

Es ist alles andere als eine glückliche Kindheit, von der der mexikanische Autor Mario González Suárez in seinem Buch „Als Kind“ erzählt. Der Vater des kleinen Francisco, ein Nichtsnutz und kleinkrimineller Aufschneider, prügelt Frau und Kinder regelmäßig grün und blau. Nie ist Geld im Haus, doch obwohl Franciscos Mutter nicht weiß, was sie ihren Kindern zu essen geben soll, wird sie „niemals aufhören zu glauben, dass sie mit ihrem Ehemann glücklich werden kann“.

Eine veritable Familienhölle: Ist der Vater wieder einmal tagelang verschwunden, weint die Mutter und fragt ihren Sohn verzweifelt: „Was soll nur aus uns werden?“ Francisco hingegen wünscht sich sehnlichst, der Vater möge nie wieder kommen.

Weil die Eltern überall, wo sie hinkommen, Kleinkrieg mit den Nachbarn und angeblichen Verwandten anzetteln und der Vater stets von der Polizei oder von Feinden gesucht wird, zieht die Familie von einer Bleibe in die nächste, bis sie schließlich in einem Haus in den Außenbezirken von Mexiko-Stadt landet, in dem es offensichtlich spukt. Die Kinder hören Stimmen und Klopfgeräusche, der Mutter erscheint ein Flötenspieler mit dem Gesicht einer Ziege. Francisco hat den Eindruck, dass diesmal die eigene Wohnung versucht, die Familie hinauszuwerfen, „als wären wir Geister und stünden unter einem Bann, immerfort fliehen zu müssen“.

Diese Kindheit auf der Flucht, hin und her gestoßen zwischen den zänkischen Eltern und lieblosen, zweifelhaften Verwandten, beschreibt González Suárez beklemmend unsentimental, fast staunend aus der Sicht des Jungen, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Anders als Frank O’Connor in „Die Asche meiner Mutter“ – um die erfolgreichste Schilderung einer unglücklichen Kindheit zum Vergleich zu nehmen, die von ihrem Gegenstand her viele Parallelen aufweist – verzichtet González Suárez auf jeden Gefühlskitsch. In seinem Buch gibt es keine Spannungspausen, keine künstlichen Effekte und keine zeitliche Kontinuität.

González Suárez erzählt dafür in einer beständigen Gegenwart von der Kindheit, dieser „Region, die begrenzt ist wie die Gefängnisse der Verdammten im Jenseits“. Es ist der Monolog der wispernden Stimme, die Francisco in dem Geisterhaus hört, von Christian Hansen klar und unprätentiös ins Deutsche übertragen. Begleitet von Hundegebell, Sirenen, Stimmen und Schlagern aus dem Radio, erzählt diese Stimme von erster Liebe und brüderlichem Verrat, von Hunger und der Sehnsucht nach einem Spiegelei.

Mario González Suárez wurde 1964 geboren und gehört zu der neuen Generation mexikanischer Autoren, die anders schreiben als die lateinamerikanischen „Väter“ des magischen Realismus. Sie suchen nach neuen, brisanten, kosmopolitischen Themen, tauchen nicht ein in die lateinamerikanische Mythenwelt. Der Schriftsteller erzählte kürzlich während einer Lesung in Deutschland, er sei eifriger Leser von Sigmund Freud, C. G. Jung und den deutschen Romantikern.

Francisco, der Ich-Erzähler seines Romans, rechnet nicht ab, er beurteilt nicht und er lamentiert nicht. Er berichtet nur, was er sieht und erlebt. Er beschönigt nichts und er stilisiert sich auch nicht zum Helden, dem das Elend um ihn herum nichts anhaben kann. Noch einmal sucht er die Orte seiner Kindheit auf, jener „Region, die begrenzt ist wie die Gefängnisse der Verdammten im Jenseits“.

Die Erwachsenen sind in dieser brüchigen Kinderwelt ähnlich unberechenbar und unheimlich wie Naturgewalten oder die rätselhaften Götter, zu denen sie beten. Sie haben die Macht, die Kinder nach Gutdünken zu bestrafen oder zu belohnen. Sie haben sogar das Recht, ihre Kinder umzubringen, womit der Vater oft genug droht. Und trotzdem oder gerade deswegen ist die Kindheit von Francisco und seinen Geschwistern Damasco und Ariadne voller Mysterien.

Mit Palmzweigen und Gebeten besänftigt die Mutter Gewitter und Wolkenbruch. Wenn die Jungen mit ihren Fahrrädern über die weite Brachfläche sausen, fühlen sie sich stark und frei. Als ein armseliger Zirkus mit einem zahnwehkranken Löwen in der trostlosen Siedlung strandet, träumen die Kinder von bunten Zirkuslichtern – und davon, das Fell des brüllenden Tiers zu berühren.

Am Ende gelingt es Francisco, den Schlägen und dem Gezeter der Eltern, dem Teufelskreis von Fressen und Gefressenwerden zu entfliehen. Zum Glück ist er noch einmal zurückgekehrt in seine Kindheit, um seine Stimme zu erheben und davon zu erzählen.

DIEMUT ROETHER

Mario González Suárez: „Als Kind“. Aus dem mexikanischen Spanisch von Christian Hansen, Berlin Verlag, Berlin 2001, 170 Seiten, 17,38 €