Das verschwundene Klassenzimmer

Das „Futurum“ in der kleinen schwedischen Stadt Bålsta ist die Schule des 21. Jahrhunderts. Die Fiktion der Schulklasse ist dort aufgelöst. An ihre Stelle tritt eine multifunktionale Lernlandschaft für Schüler aller Begabungen und jeder Altersstufe

aus Bålsta CHRISTIAN FÜLLER

Hier gibt es kein Klassenzimmer. Das Futurum nahe Stockholm hat alles, was zu einer Schule gehört: Schüler, Lehrer, Bücher. Bloß die Klassen sind verschwunden. Es gibt keine geschlossenen Räume, die den Blick nur auf den Schulhof freigeben. Keine Lehrerpulte, vor denen sich Schulbänke aufreihen. Das Futurum sieht eher aus wie ein lichtdurchflutetes Jugendzentrum.

Schule derNew Economy

Jugendliche drapieren in der Küchenzeile des weitläufigen Gemeinschaftsraumes ein Tablett mit kleinen Törtchen. Sie sitzen an den Bildschirmen des PC-Areals. Oder sie beugen sich im Wintergarten nebenan über ihre Hefte. Überall sind Kinder und Jugendliche zu sehen, manche studierend, andere nicht. Hin und wieder ist ein Lehrer dabei. Nie aber steht eine Lehrkraft vor „ihrer Klasse“. Das gibt es im Futurum, der Schule der 17.000-Einwohner-Gemeinde Bålsta in Schweden, nicht mehr.

„Wir wollten die Schule des alten industriellen Typs abschaffen“, berichtet Hans Ahlenius, „und stattdessen eine Schule für die Wissensgesellschaft gründen.“ Der Mathematik- und Computerlehrer, der das Projekt Futurum vor drei Jahren mit aus der Taufe hob, sieht nicht gerade aus wie ein IT-Freak der New Economy. Ahlenius ist Mitte fünfzig. Er trägt Hausschuhe. Seine neugierigen Besucher, die beinahe täglich von überallher aus Europa kommen, müssen sich blaue Plastikgaloschen über die Schuhe spannen. Oder in Strümpfen die futuristische Schule ertasten. Das ist nicht das einzige Ungewöhnliche hier.

Im Futurum lernen Schüler nicht arbeitsteilig, getrennt nach Schulfächern wie Schwedisch, Mathematik oder Musik. Sie behandeln den Lernstoff problemorientiert, in Projekten. Musste etwa Hans Ahlenius als schwedischer Teenie in Geografie noch, wie er meint, etwas so Sinnloses wie die Namen russischer Flüsse auswendig lernen, so geht es seinen Schülern David Larsson und Christoffer Arehorn heute ganz anders.

Sie befassen sich mit Wasser als einem übergeordneten Thema. Mehrere Wochen erarbeiten sie sich in einem Lernteam, welche Funktionen Wasser hat. Wie es chemisch zusammengesetzt ist. Warum es bald Kriege um Wasser geben wird. Welche Rolle der Flüssigkeitshaushalt im Körper spielt. „Wir müssen doch im 21. Jahrhundert Schülern nicht mehr die Eine-Million-Mark-Frage nach Fakten stellen!“, sagt Ahlenius – und zwinkert mit den Augen: Das ist etwas für Fernsehshows, aber nicht für eine Schule.

Um Projektarbeit zu ermöglichen, ist Bålstas Futurum völlig neu konstruiert worden. Baulich wie pädagogisch haben Ahlenius und seine Kollegen die traditionelle Basiseinheit von Schule abgeschafft, die Schulklasse. Das Futurum besteht stattdessen aus sechs Schulen à 160 Schülern – sortiert nach Farben. Die rosarote Schule, die grüne, die blaue Schule und so fort setzen sich wiederum aus zwei altersgemischten Gruppen von 80 Schülern zusammen: Die 6-Jährigen der Vorschule und die 7- bis 10-Jährigen sind eine gemischte Gruppe. Zusammen mit den 11- bis 16-Jährigen bilden sie eine autonome Schule innerhalb des Futurums – und teilen sich eine Lernlandschaft. In den verschiedenen Räumen dieser Landschaft, vom großen Gemeinschaftsareal bis hin zu den Studierstuben, arbeiten die Schüler an Projekten.

„Wir haben uns an der Arbeitsweise moderner Unternehmungen orientiert“, beschreibt Ahlenius das Ordnungsprinzip, das an die Stelle der Klasse getreten ist. Das bedeutet: Die rosarote Schule arbeitet (wie die fünf anderen Schulen) in Teams. Nicht anders als in der informationsbasierten New Economy geht es darum, den Rohstoff Wissen ständig neu zu fördern. Die Fragestellungen aus dem Lehrplan für die schwedische Schule werden interdisziplinär angegangen – nicht zersplittert in Fächer. Auch die Lehrer nehmen dabei eine ganz neue Rolle ein: Sie sind dazu da, den eigenständigen Wissenserwerb der Schüler anzuleiten und zu moderieren. Kontrolliert wird ebenfalls: Jeden morgen treffen sich je zwölf Schüler mit ihrem Vertrauenslehrer zu einer „Planungsrunde“.

„Ein magischer Trick“, sagt Nils Lundgren „diese Schule ist doch nur ein Trick.“ Der Bürger Bålstas zeigt auf das vor drei Jahren umgebaute Schulhaus. „Mit diesem modernen Lernen kommen viele nicht zurecht. Das ist nur etwas für die ganz Schlauen. Die anderen bräuchten mehr Disziplin.“ Und in der Tat seufzt auch Ahlenius’ Kollegin Ing-Britt Borg, „dass wir zwei, drei Schüler rauswerfen sollten, weil sie so undiszipliniert beim Lernen sind“. Lehrer sagen das wohl überall so.

In Schweden freilich sind Disziplin und Ordnung die einzigen Themen, über die sich Lehrer, Eltern und andere nach der internationalen Pisa-Studie aufregen können. Ein luxuriöses Problem – denn Schwedens 15-Jährige zählten bei dem internationalen Schulvergleichstest erneut zu den Besten. An den Leistungen der jungen Skandinavier gab es, wie schon bei dem weltweiten Mathematikvergleich Timss (Third International Maths- and Science-Study) nichts zu mäkeln.

Aus deutscher Sicht ist an den Ergebnissen der Schweden wie auch der Finnen und der Norweger frappierend: Sie schicken alle Kinder, egal ob superschlau, mittelmäßig oder praktisch begabt, in eine Schule – und weisen trotzdem eine sehr breite Spitze auf. In Finnland kann die Hälfte der 15-Jährigen komplexe Verständnisfragen lösen und diskutieren, in Schweden sind es 37 Prozent, in Norwegen 35 Prozent. In Deutschland schaffen das nur 28 Prozent – obwohl man die Begabten bereits ab dem zehnten Lebensjahr in gymnasialen Spezialschulen auf Leistung trimmt. Mit welcher ausgefeilten Didaktik schaffen skandinavische Lehrer das hierzulande Unmögliche? Noch ein magischer Trick?

Im Futurum kommt die schwedische Schule zu sich selbst. Ganztagesschule, keine Noten, großer Einfluss der Schüler auf die Lernziele, das ist Standard in dem 9-Millionen-Einwohner-Staat. Im Futurum aber lässt sich die andere Didaktik, die man sonst naturgemäß schwer sehen kann, regelrecht beobachten: Dass in Schweden die „Schulklasse“ eine Fiktion ist und die Realität des Unterrichts Lerngruppen sind. In verschiedenen Lernräumen machen die sich an eine Fragestellung heran – mit je eigener Geschwindigkeit und Tiefenschärfe.

David zum Beispiel, der hochbegabte 14-Jährige, hat in einem Lernteam Ludwig van Beethoven studiert. Die Schüler haben sich die Lebensstationen des Komponier-Genies betrachtet und zur Zeitgeschichte in Bezug gesetzt. Bis in Details der wichtigen Partitur seiner 9. Symphonie trieben sie die Fallstudie voran. „Ich setze mir meine individuellen Ziele“, sagt David über seine Arbeitsweise, „und erreiche so ein höheres Niveau.“

Im gleichen Projekt hat sich Christoffer einen Rockmusiker genauer angesehen. Der 16-Jährige, der von sich selbst sagt, „dass ich Schwierigkeiten mit der Schule habe“, interessierte sich dabei von Anfang an für die Drum-Technik. Er ist selbst Drummer. Sein individuelles Ziel ist: Musiker zu werden. In Deutschland wären David und Christoffer nach dem zehnten Lebensjahr auf zwei ganz andere Schulen gegangen. Hier gehören sie der rosaroten Schule im Futurum an. Oft lernen sie im gleichen Lernteam – obwohl sie verschieden alt sind.

Didaktischer Trick: Freiheit

Patrik Magnusson zuckt mit den Schultern. Der Englischlehrer weiß es schlicht nicht, worin der didaktische Dreh besteht, gute und schlechte, hoch- und weniger begabte Schüler gleichzeitig zu unterrichten. „Ehrlich gesagt“, meint der 26-Jährige nach einigem Überlegen, „sind die Ziele des schwedischen Lehrplans ein bisschen verschwommen. Das ist ein Vorteil.“ So kann er ein wichtiges Prinzip seiner Lehrerausbildung zur Geltung bringen: die Freiheit. „Ich mag es, selber entscheiden zu können, wann ich zum Vokabeltraining ein Spiel mache, wann ich einzelne Schüler zur Grammatiknachhilfe aus der großen Lerngruppe bitte oder wann ich Nick Hornby lese.“

In Schweden wird gar nicht erst versucht – wie bei uns –, alle Schüler einer Klasse möglichst im Gleichschritt auf Lernziele zumarschieren zu lassen. Als Faustregel schwedischer Lehrer für die Unterrichtsvorbereitung gilt: Wer kann mit wem lernen? In der rosaroten Schule des Futurums kann Patrik Magnussen die prägende Idee der schwedischen Schule auf die Spitze treiben: die individuellen Förderung. Die Lernlandschaft des Futurums erlaubt es, sogar die Lernatmosphären zu individualisieren – bis hin zu Temperatur.

David, Christoffer und seine Mitschüler etwa haben nach einer Befragung ihr ideales Studierstübchen eingerichtet: Es ist nicht zu warm dort, es herrscht gedämpftes Licht, Tische und Stühle stehen bereit – das heißt: die Kinder sitzen nicht auf dem Boden (was durchaus möglich wäre). Das „Martyrium“, wie das Lernzimmer spaßeshalber genannt wird, können die Schüler für individuelle Sitzungen buchen. Es wird dann, wenn die Kids es wollen, zusätzlich mit den sphärischen Klängen von Enya unterlegt. Andere rosarote Lernorte heißen „Milchstraße“ (hell, warm, man darf sprechen), „Ozean“ (dunkel, kalt, man darf sprechen) und „Lichthof“ (hell, warum, still).

Die Lernprinzipien des Futurums sind deutschen Schulen nicht fremd. Die Laborschule in Bielefeld etwa praktiziert Projektuntericht. Die Adorno-Schule in Elze verzichtet, ähnlich wie Futurum, auf äußere Zwänge wie Teilnahmepflicht oder Noten. An der Glockseeschule in Hannover gibt es jahrgangsübergreifenden Unterricht. Das alles freilich sind Reformschulen, deren Stil die Gleischritt-Didaktik normaler Lehranstalten so gut wie nicht verändern konnte. Bålstas Futurum hingegen ist schwedischer Alltag.

Und wo wird im Futurum richtig gelernt?

Nicht etwa Erziehungswissenschaftler einer Universität oder die nationale Schulbehörde „Skolverket“ haben das Projekt begonnen – sondern Soren Andersson, der Bürgermeister der Kleinstadt Bålsta. Anlass war die anstehende Renovierung der damaligen Kvarnbacks-Schule, dem heutigen Futurum. „Wenn wir schon 60 Millionen schwedische Kronen (rund sechs Millionen Euro, die Red.) in die Schulrenovierung investieren müssen“, fragte der Bürgermeister und sein Gemeinderat die Lehrer, „könnten wir dann nicht etwas ganz Neues ausprobieren, eine Schule der Zukunft?“ Also recherchierte Hans Ahlenius mit ein paar Kollegen – und erfand das Futurum.

Inzwischen steht die klassenlose Schule Pate für die Bildungsanstalten der Umgebung. Die Kommune Håbo hat sich einen Schulplan 2000 gegeben – dessen Grundriss und pädagogische Idee dem Futurum nachempfunden ist: Teamarbeit; jahrgangsübergreifender Unterricht; Lernen nicht in Fächern, sondern in Projekten; gestützt durch das Neueste an Informationstechnologie. Inzwischen, schätzt Ahlenius, arbeiten 10 Prozent schwedischer Schulen nach dem klassenlosen Prinzip.

Bålstas Einwohner kommen, von der Ordnung abgesehen, inzwischen ganz gut klar mit ihrer Schule. Nur die Besucher stehen oft ratlos in den rosaroten, grünen, roten, gelben, orangen und blauen Lernlandschaften des Futurums. Sie fragen dann, erzählt David vergnügt, wo denn die Klassenzimmer sind, in denen gelernt wird. Patrik Magnusson, Davids Englischlehrer, tippt sich dann nicht weniger amüsiert an die Stirn: „Das ist der Raum, in dem wir lernen.“