Der Hauptdarsteller im Kreuzfeuer

Mit „Bloody Sunday“ (Wettbewerb) erzählt Paul Greengrass von jenem Tag, an dem Fallschirmjäger im nordirischen Derry 30 Demonstranten erschossen – aus der Sicht eines Protestanten in der katholischen Bürgerrechtsbewegung

Als der Film „Bloody Sunday“ Anfang des Jahres den Verwandten der Opfer in Nordirlands zweitgrößter Stadt Derry vorgeführt wurde, brach Hauptdarsteller James Nesbitt in Tränen aus. „Ich hatte den Film vorher noch nicht gesehen“, sagte er. „Und ich glaube, Lazarus könnte durch diesen Film wieder auferweckt werden. Er ist sehr emotional, das wird niemand leugnen. Ich bin sehr stolz darauf.“

13 unbewaffnete Demonstranten starben vor fast genau 30 Jahren an jenem „Bloody Sunday“ in Derry (siehe taz vom 30. 1.), als britische Fallschirmjäger das Feuer eröffneten. John Johnston, der als erster von einer Kugel getroffen worden war, starb fünf Monate später. Der Blutsonntag markierte das Ende der Bürgerrechtsbewegung. „Es war der Wendepunkt in dem Konflikt“, sagt Regisseur Paul Greengrass. „Er wurde von einer minderschweren Angelegenheit in einen Bürgerkrieg hineinkatapultiert.“ Greengrass war damals 17 – „alt genug, um zu verstehen, dass etwas Schockierendes geschehen war“.

Der Film, der drei Millionen Pfund gekostet hat, erzählt die Ereignisse jenes Tages aus der Sicht von Ivan Cooper, einem der wenigen Protestanten in der fast ausschließlich katholischen Bürgerrechtsbewegung. „Kein Film ist perfekt in seiner historischen Darstellung“, sagt Cooper, „es gibt so etwas wie künstlerische Freiheit. Aber ich finde, dieser Film ist von höchster Integrität.“

Greengrass hat ihn im Stil eines Dokumentarfilms gedreht, er arbeitet mit Blenden und mit der Schulterkamera. Die wackligen Bilder von der Demonstration und dem Chaos an den Straßensperren verleihen dem Film Tempo und Spannung, während die Blenden immer wieder als Zäsur, als Übergang zu den Übungen der Fallschirmjäger und zur Strategiebesprechung im Armee-Headquarter dienen.

Natürlich ist der Film parteiisch, das kann nicht anders sein bei einem Ereignis, das von beiden Seiten diametral entgegengesetzt dargestellt wird. Greengrass folgt der Version der Demonstranten, der Augenzeugen – wie Bischof Edward Daly – und der Opfer, die verletzt überlebt haben. Deren Darstellung der Ereignisse ist allemal glaubwürdiger als die der Fallschirmjäger, das haben Voruntersuchungen und selbst die vorsichtige Aussage eines beteiligten Soldaten ergeben. Der Film habe die Ereignisse von damals noch einmal drastisch vor Augen geführt, sagt Michael Bradley, der am Blutsonntag schwer verwundet wurde: „Es war ein quälendes Erlebnis für die Familien, deren Verwandte erschossen worden sind. Es war auch für mich sehr schwierig, auf der Kinoleinwand mit anzusehen, wie ich angeschossen wurde.“

Eigentlich wollte Greengrass seinen Film erst nach Abschluss der Untersuchung drehen, die 1998 eingeleitet worden ist. Doch mit einem Ergebnis ist erst in zwei Jahren zu rechnen. Hinzu kommt, dass der schottische Rergisseur Jimmy McGovern ebenfalls einen Film über den Bloody Sunday gemacht hat („Sunday“). Zwischen beiden Projekten herrschte Rivalität, beide wurden fast zeitgleich vom Fernsehen ausgestrahlt. Anders als McGovern lässt Greengrass offen, ob der Schießbefehl von höchster Stelle, vielleicht sogar vom damaligen Tory-Premierminister Edward Heath, abgesegnet worden ist.

Dennoch löste der Film eine Kontroverse in Nordirland aus, in deren Mittelpunkt James Nesbitt steht. Er ist nordirischer Protestant, und als er in „Lucky Break“ voriges Jahr die Hauptrolle spielte, war man in seinen protestantischen Heimatvierteln noch stolz auf ihn. Jetzt gilt er als Nestbeschmutzer. Er habe sich für „giftige antibritische Propaganda“ hergegeben, findet die unionistische Historikerin Ruth Dudley Edwards. Nesbitt ist nicht der erste berühmte nordirische Protestant, der von seinen eigenen Leuten geschmäht wird, weil er sich zu weit von seinen Wurzeln entfernt habe. Den Schauspielern Kenneth Branagh und Stephen Rea ging es so, den Musikern Van Morrison und James Galway, dem Autorennfahrer Eddie Irvine und dem Fußballer George Best.

Nesbitt wusste, was auf ihn zukam. Er nahm die Rolle erst an, nachdem er Ivan Cooper, inzwischen 58 Jahre alt, kennen gelernt hatte. Beide haben sich während der Dreharbeiten angefreundet. „Ich hoffe, dass dieser Film Teil des Heilungsprozesses sein wird“, sagt Nesbitt. „Dieser Film hätte vor 29 Jahren gedreht werden sollen.“ RALF SOTSCHEK

„Bloody Sunday“. Regie: Paul Greengrass. GB/Irland 2002, 107 Min.