Mr. Brett auf Ochsentour

Pogo im Jahr 2002: Brett Gurewitz, Gitarrist von Bad Religion, prägte den Punk wie kein anderer. Bis er zu seinem eigenem Feindbild mutierte. Nun will er von der Punknische aus die Majors verändern

Selbst ein Bekenntnis zum Westen kann in eine Idee von Punk integriert werden

von THOMAS WINKLER

„Du machst einfach einen Griff auf der Gitarre, haust auf die Saiten und schon hast du Musik.“ So soll Sid Vicious dereinst Punk beschrieben haben. Das Rocklexikon glaubt, Punk sei entstanden als „musikalischer Ausdruck von wirtschaftlichem Niedergang, Arbeitslosigkeit und Entfremdung“. Und was sagte erst unlängst Campino, der in zwanzig Jahren als Tote Hose ausreichend Erfahrungswerte hat sammeln können: „Punk ist nur ein ganz hilfloser Begriff, um eine gewisse schnelle Musik zu definieren.“

Was also ist Punk? Für die einen das niedlich hoppelnde Gitarrenzeugs, mit dem Sum-41 oder Blink 182 momentan in den Charts reüssieren; für die anderen der Trash-Rock, den Richard Hell und Tom Verlaine Mitte bereits der 70er-Jahre in New York spielten. Für manche beendete Punk seine Existenz mit dem Ende der Sex Pistols, für die nächsten bereits ein knappes Jahrzehnt früher mit den Stooges, und manch einer glaubt noch heute fest daran, dass Punkrock lebt und gedeiht. Was stimmt, denn wohl niemals zuvor war Punkrock kommerziell so erfolgreich wie dieser Tage. Was andererseits auch wieder ganz und gar nicht stimmt, sagen andere, denn nie zuvor war Punkrock gesellschaftlich so belanglos und politisch so irrelevant. Aber, die Frage bleibt: Was ist Punk? Ein Sound? Oder eine Einstellung? Komische Sache auf jeden Fall: Punk im Jahre 2002.

Und was sagt Brett Gurewitz, der es nun wirklich wissen müsste? Schließlich hat er eine der wichtigsten Punkrockbands aller Zeiten gegründet, verlassen und sich ihr wieder angeschlossen. Schließlich hat er einige der eingängigsten Songs geschrieben, zu denen jemals Pogo getanzt wurde, und manche von diesen Songs gehören auch noch zu den griffigsten Agit-Prop-Werken, die je verfasst wurden. Und nicht zuletzt leitet Gurewitz das kommerziell erfolgreichste Punkrocklabel dieses Planeten, wurde so zu seinem eigenen Feindbild und darüber heroinsüchtig.

Wenn also jemand wissen sollte, was Punk ist, dann wohl Brett Gurewitz, Gitarrist und Songschreiber von Bad Religion, Chef von Epitaph. „Punk?“, fragt er, kratzt vorsichtig die leicht angegrauten Schläfen und rückt das strenge schwarze Brillengestell auf der Nase zurecht: „Das Besondere an Punkrock ist, dass man nicht erklären kann, was Punkrock ist. Ich bin jetzt 39 Jahre alt und ich weiß, was Punkrock für mich ist. Ich nenne mich selbst einen alten Punkrocker, weil ich ein knappes Dutzend Platten aufgenommen habe, auf denen sich Musik befindet, die als Punkrock bezeichnet wird. Aber um die Frage zu beantworten, was Punkrock ist, haben wir nicht genügend Zeit.“ Das ist wohl wahr, denn Gurewitz hat Los Angeles verlassen für eine Interviewtour, die in übersichtliche halbe Stunden aufgeteilt ist und vor allem „The Process of Belief“, die neue, gerade auf Epitaph erschienene Platte von Bad Religion, bewerben soll. Eine Ochsentour, ohne die auch eine der dienstältesten Punkbands und ein weltweit erfolgreich operierender Punkkonzern nicht auskommen.

„The Process of Belief“ ist eine sehr traditionelle Punkplatte geworden, auf der sich 14 Songs in gerade mal knapp 37 Minuten drängeln. Bad Religion haben sich auf ihre Stärken besonnen, eben jenen „melodischen Hardcore-Stil“, so Gurewitz, „mit dem wir bekannt geworden sind“. Abgesehen von einem Intro im Reggae-Rhythmus toben alle Songs in eher schnellerem Tempo los und halten sich nicht mit unnötigen Schnörkeln auf, bevor sie in einem euphorischen, eingängigen Refrain gipfeln. So was wurde schon Ende der 70er-Jahre gespielt und wenn die letzten zwanzig Jahre irgendeine Erkenntnis bereit gehalten haben, dann wohl die, dass diese Musik wohl auch noch in zwanzig Jahren gespielt und gehört werden wird.

Tatsächlich ist es ja sogar so, dass Punkrock, wie ihn Gurewitz und seine Mitstreiter schon spielten, als er und ein paar Schulkameraden vor 22 Jahren ihre Band gründeten, heutzutage ein kommerzielles Hoch erlebt, für das wiederum Bad Religion mit ihrem Durchhaltevermögen und Epitaph mit seiner erfolgreichen Firmenpolitik hauptverantwortlich zeichnen. Blutjunge Bands wie Blink 182, Sum-41, Weezer oder Alien Ant Farm zwirbeln sich stachelige Frisuren, malträtieren ihre Gitarren in Hochgeschwindigkeit und lassen auch gern mal die Hosen runter. Aber: Ist das immer noch Punk? Oder: Schon wieder? „Als ich 17 war“, sagt Gurewitz, „war das Allerletzte, was ich brauchen konnte, ein 40-Jähriger, der mir erzählt, was Punkrock ist.“

Im Gegensatz zur nachwachsenden Generation allerdings waren Bad Religion stets eine Band, die Stellung nahm zu politischen und gesellschaftlichen Themen. Mit „Kyoto Now!“ befindet sich ein Song auf der neuen Platte, der sich konkret äußert zur gescheiterten Weltklimakonferenz und ansonsten taucht „The Process of Belief“ wieder tief ein in die amerikanische Befindlichkeit, beschreibt, wie Entfremdung und Isolation in den Trailer-Parks wachsen, oder versucht die Motivation eines Amokläufers zu ergründen. „Ich glaube nicht, dass wir die Welt ändern können, so wie Ché Guevara versucht hat, die Welt zu ändern“, sagt Gurewitz heute, „aber ich glaube, Musik hat Einfluss auf Menschen und der einzige praktikable Weg, die Welt zu ändern, ist, das Verhalten der Menschen zu ändern.“

Ob Materialismus, Mythologie oder Epiphanie, Gurewitz und Sänger Greg Gaffin, die beiden inhaltlich Hauptverantwortlichen, schrecken wie gewohnt auch vor Fremdwörtern nicht zurück, die man gemeinhin nicht in Punkrocktexten vermuten sollte. Aber trotz des eigenen Anspruchs würde sich Gurewitz hüten, der neuen Generation vorzuwerfen, sie wäre zu unpolitisch: „Wenn man sich die Geschichte von Punk ansieht, gibt es eine lange Geschichte von Bands, die puren Eskapismus betrieben haben. Aber trotzdem hatten die Buzzcocks das gewisse Etwas, das Sum-41 fehlt. Aber der Unterschied lässt sich so schwer festmachen wie der zwischen einem Gedicht und einer Glückwunschkarte.“

Die Geschichte von Punk hat Gurewitz in den letzten beiden Jahrzehnten geprägt wie kaum jemand sonst. Als Bad Religion Mitte der 80er-Jahre Epitaph gründeten, um ihre eigenen Platten heraus zu bringen, geschah das aus reiner Notwendigkeit. Niemand sonst wollte die Schuljungen aus Los Angeles veröffentlichen. 1994 stieg Gurewitz aus der Band aus, um sich ganz dem zunehmend wachsenden Label zu widmen, das kurz darauf endgültig „explodierte“ und plötzlich Millionen von Platten von Bands wie Offspring oder Rancid verkaufte. Vor allem aber etablierte Epitaph ein breites Mittelfeld von Bands wie NO FX, Pennywise, Hives oder zuletzt The (International) Noise Conspiracy, die solide Verkaufszahlen erzielten und erzielen, ohne gleich an die Spitze der Charts durchzustarten. In den letzten Jahren begann man auch ausländische Bands zu verpflichten, darunter die Terrorgruppe und die Beatsteaks aus Berlin. „Wir besetzen eine Nische“, sagt Gurewitz, und das erfolgreich.

Hundert Millionen Dollar soll ein Unterhaltungskonzern schon einmal für die Übernahme von Epitaph geboten haben. „Mr. Brett“, wie er ironisch genannt wird, lehnte ab, gründete lieber ein zweites Label und diversifizierte sein Programm erfolgreich. Auf Anti veröffentlicht nun Tricky seine klaustrophobische Elektronik ebenso wie Buju Banton seinen eher sonnigen Reggae. „Beide Labels sind sehr gesund“, erzählt Gurewitz und ergänzt, dass man im letzten Jahr den Umsatz um vier Prozent steigern konnte, während der Rest der Industrie über stagnierende Absatzzahlen klagt. Nicht ohne Stolz erwähnt Gurewitz, dass Tom Waits von seinem letzten, auf Anti erschienen Album weltweit mehr als eine Million Einheiten verkauft hat, während die Platte davor auf einem Major-Label nicht einmal die Hälfte umsetzen konnte: „Jemand wie Waits, der so einflussreich und weltweit respektiert ist, verläßt ein Major-Label, lässt seine Platten von mir, einem alten Punkrocker, herausbringen und hat noch Erfolg damit. So etwas wird die Majors nicht in ihren Grundfesten erschüttern, aber es wird zumindest ihr Geschäftsgebaren verändern.“ Momentan verhandelt Gurewitz mit Courney Love über ihr neues Album. Die Cobain-Witwe hat ihm zudem einige Songs aus dem Nachlass von Nirwana vorgespielt: „Sie sind fantastisch. Es wäre mir eine Ehre, das heraus zu bringen.“

Längst ist Epitaph ein florierendes mittelständisches Unternehmen mit 35 Beschäftigten in den USA, weiteren 20 in Europa und zusätzlichen Büros in Kanada und Australien. Zwischenzeitlich aber konnte Gurewitz den Erfolg seiner Firma nicht verkraften. Dem Ausstieg bei Bad Religion folgte ein übler, öffentlich ausgetragener Streit mit dem Rest der Band. „Ich war auf Drogen, ich war depressiv, ich wurde geschieden, ich fiel auseinander. Ich war ganz einfach ein Arschloch“, weiß er heute. Mitte der 90er aber, als frisch gebackener Multimillionär, „musste ich urplötzlich meine Werte hinterfragen. Ich war plötzlich exakt das, wogegen ich immer gesungen hatte.“ Das Dilemma, vom Punk zum erfolgreichen Kapitalisten mutiert zu sein, führte ihn zum Heroin und schließlich sogar vor Gericht. Für Drogenbesitz wurde er zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, die Strafe aber zugunsten eines viermonatigen Entzugs ausgesetzt. „Anschließend musste ich weitere acht Monate eine Therapie machen und fünf Mal die Woche pinkeln, um zu beweisen, dass ich clean bin. Wäre nur ein Test positiv gewesen, hätte ich sofort meine sechs Monate absitzen müssen. Das war ziemlich motivierend.“

Teil der Genesung war auch die Rückkehr zu Bad Religion. Der ehemals verlorene Sohn hat zwar mit seiner florierenden Firma so viel zu tun, dass er keine kompletten Tourneen mitspielen wird. Aber zusammen mit Sänger Greg Gaffin hat er die Songs für „The Process of Belief“ geschrieben und wird wohl auch bei einigen Konzerte dabei sein. Viel wichtiger für ihn aber war es wohl, die Freundschaft zu den ältesten Freunden zu reaktivieren. Über die brennenden Twin Towers informierte ihn denn auch telefonisch Gaffin. Die Aufnahmen zum Album waren zu diesem Zeitpunkt schon beendet, aber Gurewitz glaubt, lange schon genügend Songs zum Thema geschrieben zu haben: „Ich habe meine Band nach dieser Problematik benannt.“

Während des Golfkriegs hatte Gurewitz noch über Emigration nachgedacht, aber nun liegen die Dinge nicht mehr so unkompliziert. Eher schon haben Bad Religion und ihr Punkrock plötzlich wieder „eine gewisse Verantwortung“, denn „ein Resultat dieser Ereignisse ist, dass viele Bands, Künstler und andere öffentliche Figuren, die die Regierung bisher kritisiert haben, verstummt sind. Wenn man gerade das aufgibt, gibt man die positiven Aspekte der Demokratie auf.“ Im Jahre 2002 kann selbst ein solches Bekenntnis zu westlichen Werten in eine Idee von Punkrock integriert werden. Komische Sache, das. Sid Vicious und sein Hakenkreuz-T-Shirt werden in ihrem gemeinsamen Grab rotieren.