Nachsaison an der Ostsee

Balgereien in einem polnischen Badeort: Zwei Jungs kämpfen auf „Klassenfahrt“ (Forum) um die Gunst desselben Mädchens. Das Pubertätsdrama entgeht elegant den Authentizitätsfallen, in die sich der neue deutsche Teenagerfilm gerne verstrickt

Von ANDREAS BUSCHE

Das größte Missverständnis des „neuen deutschen Teenagerfilms“ lässt sich auf einen Nenner bringen: Das Problem der Überauthentifizierung seiner Milieus. Als wären die Codes der Jugendkultur geschlossene (Kommunikations-)Systeme, die nach Belieben de- bzw. rechiffrierbar sind. Das ist ein Irrtum.

Indem Szenen und Subkulturen detailgetreu rekonstruiert werden, verflachen sie zu urbaner Folklore. Jede Geste und Handlung leidet so unter dem Wissen ihrer Inszenierung. Denn der Irrtum von Filmen wie „Absolute Giganten“ oder „Alaska.de“ zum Beispiel bestand vor allem darin, dass sich die Macher aus den modischen Diktaten, die letztlich immer nur stilistische Verzerrungen bleiben, die Daseinsberechtigung ihrer Filme zogen. Das Banale ist hier zur Methode einer falsch verstandenen Authentizität verklärt worden – und die Handkamera ist die „Waffe“, die solche Manierismen zum Anschlag bringen.

Henner Wincklers Film „Klassenfahrt“ entzieht sich diesen Authentizitätsfallen elegant, ohne sein Milieu zu verraten. Sein Blick unterliegt keinerlei Zwängen und Vorurteilen, derer er sich erst entledigen müsste. In dieser Sicherheit zeigt sich auch die Nähe von Winkler zu seinen jungen Darstellern. In seiner angenehm unaufgeregten Schilderung eines sehr kurzen Lebensabschnitts einiger Teenager zeichnet sich die ganze Problematik des Erwachsenwerdens in trotziger Schweigsamkeit ab: eine Klassenfahrt an die polnische Ostsee.

Der Film beginnt mit der Fahrt im Bus. Die Zehntklässler tauschen erste Liebeserfahrungen aus, reden übers Saufen und pöbeln sich an: Eine typische BVG-Situation. In der Beobachtung seiner Figuren gelingt Winkler es aber schon in diesen ersten Minuten, die soziale Ordnung der Jugendgruppe herauszuarbeiten. Sehr diskret tastet er die Konstellationen ab und schafft so Nähe. Bemerkenswert hierbei, wie genau er den Slang der Teenager trifft: Ihre Sprache ist brüchig und laut, die Worte sind roh und unüberlegt. Faszinierend unscharf wird sie in den emotionalen Momenten, dann bekommt dieses Ungeschliffene so etwas wie eine hilflose Erhabenheit.

Diesen beharrlichen Stolz drücken vor allem Ronny und Isa in ihren kurzen, scheuen Dialogen aus. Ihr Unvermögen, Gefühle zu artikulieren, mündet in eine Tragödie. Und der polnische Badeort in der Nachsaison ist in seinem schmierigen Grau die perfekte Kulisse für die Unbilden der Adoleszenz.

Zufluchtsort vor dieser hässlichen Einöde und dem Zugriff der autoritären Figur, dem Lehrer, ist die Disco „Paradise“, in der man sich abends mit den örtlichen Jugendlichen vermischt. Ronny und Isa lernen den achtzehnjährigen Marek kennen, der den Sommer über in einem Strandhotel gearbeitet hat und seine letzten Tage im Ort abhängt. Zwischen den beiden Jungen entwickelt sich ein Machtkampf um die Gunst des Mädchens: der Wettbewerb ist ihre früheste Erfahrung aus der Welt der Erwachsenen. Und langsam verlagern sich die Kämpfe vom Psychologischen ins Körperliche.

Das Körperliche beschränkt sich in „Klassenfahrt“ vorerst noch auf die Jungswelt. Am Strand balgen sie sich im Sand beim Ballspiel, um den Mädchen zu imponieren. Später berherrscht dann wieder der Straßenslang ihre Rede.

Solche thematischen und szenischen Details machen die Qualität von „Klassenfahrt“ aus. Die spröde Kamera sucht nicht in jedem Bild nach Selbstvergewisserung, sie orientiert sich diskret am unprätentiösen Stil der Laiendarsteller, für die noch nicht jeder Gang an den Frühstückstisch eine kleine Performance bedeuten muss. „Klassenfahrt“ verschwört sich eher mit seinen Figuren gegen die Welt da draußen. Keine Ahnung, ob man das deswegen jetzt gleich wieder „authentisch“ nennen muss.

„Klassenfahrt“. Regie: Henner Winckler. Deutschland 2002, 85 Min.