„Ich bin der geborene Gast“

Wie man zum Schreiben von Texten und Büchern kommt und irgendwann seinen Gestaltungswillen auf nichts anderes als Literatur richtet: Ein Gespräch mit dem Frankfurter Schriftsteller Jamal Tuschick

Interview FRANK WITZEL

taz: Könnten Sie einen grundlegenden Impuls nennen, der Sie zum Schreiben gebracht hat?

Jamal Tuschick: In der Jugendwelt der Siebziger musste man sich eindeutig positionieren. Das Beste, was man werden konnte, war Rockgitarrist. Dichter war dagegen vergleichsweise schwach, aber immerhin eindeutig. Selbst Leute, die nicht lesen konnten und das sowieso für Schwuchtelkram hielten, hatten Respekt davor. Ich bin nicht Moped gefahren und konnte auch nicht mit anderen Attributen der Jugendvirilität dienen. Ich glaube, dass ich mir ohnehin nicht sicher war, welches Geschlecht ich favorisierte, und insgesamt eine große Durchlässigkeit besaß. Im Grunde ist das von dem Mädchen entschieden worden, mit dem ich das erste Mal geschlafen habe. Sie hat das durchgesetzt, und damit war die Sache vom Tisch.

Sie schreiben sowohl literarisch als auch journalistisch. Welche Art des Schreibens stand bei Ihnen am Anfang?

Ich habe sehr früh angefangen zu schreiben und bin lange nicht auf die Idee gekommen, dass man das auch journalistisch verwerten könnte. Als ich dann begonnen habe, Bücher zu besprechen, waren das in erster Linie Freundschaftsdienste im Rahmen des Versuchs, in Kassel und Göttingen überhaupt ein literarisches Leben zu initiieren.

Es ging nicht um Geld?

Man war daran gewöhnt, umsonst zu arbeiten. Erfolglosigkeit war das gemeinsame Merkmal. In meiner Funktion als Journalist sehe ich mich als Autorenkomplize. Ich mache ja sonst nicht viel, was man als Beitrag zum gesellschaftlichen Leben bezeichnen könnte.

Wodurch zeichnet sich Literatur aus?

Man muss bereit sein, etwas von sich zu zeigen. Wenn man sich das irgendwo anders ausleiht, bleibt man immer Journalist. Und da ich keine seelischen Abgründe habe, müssen es eben die biografischen sein.

Und vom Verfahren her?

Ich beobachte. Wobei es wichtig ist, dass die Leute nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben. Es muss eine Differenz zwischen Fremdwahrnehmung und den sozialen Tatsachen geben. Darin liegt meine Professionalität, das immer und immer wieder auszuhalten. Jedem gegenüber. Ich mache meinen Job. Ich bin auf der Arbeit, wenn ich unterwegs bin. Das ging schon sehr weit. Ich habe mich verkleidet, habe immer wieder Ankunft gespielt und die Strecke von einem bestimmtem Gleis im Hauptbahnhof bis zum Kaisersack zurückgelegt – wie sich das anfühlt, anzukommen, wie sich das anfühlt, im Anzug irgendwo hinzukommen oder im Blaumann. Die Reaktionen darauf.

Ist das nicht anstrengend auf die Dauer?

Ich habe nie das Gefühl gehabt, mich dabei anstrengen zu müssen. Was mir eher auf die Nerven geht, bei mir und bei anderen, ist ein gewisser Wiederholungszwang. Ich teile das selbst mit Leuten, die sich besser im Griff haben, nicht so uferlos, sondern innerlich besser gefestigt sind, aber auch die erzählen nur immer wieder den gleichen Müll. Man erkennt, an was sie laborieren. Mir gefällt das nicht. Ich reagiere da auch auf mich selbst allergisch.

Das heißt, Sie sehen diesen Anteil als unveränderlich an?

Ich habe die unterschiedlichsten Erfahrungen mit mir gemacht. Ich habe nicht damit gerechnet, so alt zu werden oder jemals im Anzug rumzulaufen und so weiter. Aber es gibt etwas, dass das alles nicht möchte, dass lieber heute als morgen in einer Sickergrube verschwinden will, aber natürlich gleichzeitig auch wieder nicht.

Dann haben Sie doch den richtigen Weg eingeschlagen.

Mit der Selbstzerstörung?

Das ist doch der Weg dazwischen.

Man könnte das für eine sehr komplizierte Art von Balance halten. Aber daran zweifle ich eben auch. Ich habe das schon manchmal anderen so verkauft. Meine Deutung solcher Zustände ist aber auch von der jeweiligen Tagesform abhängig. Gleichzeitig ist mein Verlangen, dieser Sache auf den Grund zu gehen, nicht übertrieben groß. Man kann diese gewaltige Energie, die in einem ist und die ich beim Schreiben auf einen Punkt zu konzentrieren in der Lage bin, nicht auf Menschen richten. Die würden dabei zerbröseln, so wie in einem Science-Fiction-Film vor einer Laserkanone. So eine Kraft kann man nur auf Dinge richten, wie zum Beispiel Literatur. Richte sie auf andere oder dich selbst, und du gehst ein.

Wo aber bündeln Sie diese Kraft, wenn Sie sie nicht auf die Literatur richten können?

Das war früher der Sport. Eine Kanalisierung der Wucht. Das hat aber entsprechend groteske Züge gezeitigt in meinen Dreißigern. Da bin ich mit dem Rad von Frankfurt nach Kassel in elfeinhalb Stunden, ohne einmal abzusteigen. Ich bin vier bis fünf Stunden lang 25-Meter-Bahnen geschwommen, zwischendurch nur kurz mal hochgekommen, um Luft zu schnappen. Ich habe unglaubliche Abstoßtechniken entwickelt. Ich dachte, ich werde zum Fisch. Ich gehe den Weg der Evolution zurück. Aber auch da gab es keine Begrenzung.

Da habe ich mir gesagt, du kannst aus deiner Beschränkung nicht herausschwimmen. Dann habe ich angefangen, Bücher zu rezensieren. Jeden Tag eins. Aber wenn du erst einmal auf über 350 Veröffentlichungen pro Jahr kommst, wird das auch absurd. So wie manche Frauen über Männer sagen: Kennst du einen, kennst du alle, so ging es mir irgendwann mit der neuen deutschen Literatur. Die hatte man doch im Sack. Da gab es keine Herausforderung. Alles wunderschöne Bücher, in denen nichts falsch gemacht wird. Prosa für den Nachttisch.

Langeweile resultiert folglich nicht aus einem Mangel, sondern aus einem Übermaß an Aktivität und Fähigkeiten.

Das glaube ich nicht. Es liegt eher an einer Engführung des Lebens; dass man gesagt hat: entweder als Sieger oder mit den Füßen zuerst, obwohl ich das zu gewissen Zeiten genauso lächerlich finde. Dann würde ich sagen: Warum nicht alle viere von sich strecken? Auch so kann man mal zwei Jahre überstehen. Aber es gibt immer diese Entschlossenheit, alles auf einen Punkt zu lenken, auf die Literatur eben. Es entweder hier zu schaffen oder gar nicht.

Und hilft dieses Schaffen dann wiederum, das eigene Leben zu bewältigen?

Ich glaube nicht, dass man die Wirklichkeit mit Behauptung aushebeln kann. Ich bin ein Medium der Frankfurter Wirklichkeit. Ich bin sehr stark motorisiert. Mit hinhaltendem Widerstand und rückwärts im Krebsgang geht da sowieso nichts. Konflikte, Widersprüche, das passiert alles in einem selbst.

Aber warum hält man sich dann an diesen Widersprüchen fest?

Letztlich um produktiv zu bleiben. Und um sich zu verzehren. Um zu sehen, was an Schmerzpotenzial vorhanden ist. So wie man sich Zigaretten auf der Haut ausdrücken könnte. Ich bin mir sicher, dass es auch befriedigendere Lösungen gibt, aber von denen profitiert man nicht ausreichend. Es geht nicht um die schnelle Mark.

Sondern um das Herausfinden eines Kerns, eines genuinen Erlebnisses?

Ich hatte zum Beispiel die Möglichkeit, das, was ich mit einer unglücklichen Liebe erlebt hatte, noch einmal mit einer anderen Frau in einer wunderbaren Stimmung nachzuspielen. Die gleiche Situation, aber ich war nicht affiziert.

Also ist das Problem: Was affiziert mich?

Es kann nur etwas Kompliziertes sein.

Liegt darin nicht der Haken? Sie haben gesagt, dass alles in einem selbst abläuft. Warum können Sie es dann nicht nachspielen?

Das weiß ich nicht.

Wahrscheinlich braucht man zur Entwicklung von Komplexität doch ein Mitwirken von außen.

Das stimmt. Natürlich wirken andere mit. Und gerade die Leute, die mit der stärksten Abwehr unterwegs sind, sind die besten Koautoren. Gerade der, der sagt: Wie willst du mich?, gerade der taugt nicht für die Rolle. Das ist der Punkt.

Wahrscheinlich muss man gerade beim Schwierigen eine Anstrengung aufbringen, um es zu verändern, und aus diesem Kraftaufwand zieht man einen emotionalen Mehrwert.

Außer in der Literatur habe ich keinen Gestaltungswillen. Ich habe in meiner Wohnung nichts im Kühlschrank. Ich besitze keinen Haushaltsgegenstand, der mir nicht geschenkt wurde oder den ich nicht aus einer Kneipe mitgenommen hätte. Ich könnte mir zurzeit noch nicht mal Kaffee kochen, weil ich es seit Wochen einfach nicht fertig bringe, irgendwo Kaffee zu kaufen. Wie Genet bin ich der geborene Gast. In jeder Hinsicht. Mich kann man eigentlich nur bewirten.

Gab es mal eine Zeit, in der das nicht so war?

Nicht wirklich. Ich habe schon Ende der Siebziger die Rumpelkammer einer Wohngemeinschaft bezogen und es noch nicht einmal fertig gebracht, die Wohnung, die in Jackson-Pollock-Manier bemalt worden war, zu ändern. Ich habe eine Kiste auf der Straße gefunden, die habe ich immerhin rot angestrichen und unten Zeitungspapier reingelegt, da waren meine Sachen drin. Das Regal bestand aus einem gefundenen Brett und zwei mitgenommenen Backsteinen.

Aber Sie hatten doch ein Elternhaus.

Meine Eltern haben mich mit vierzehn, als sie dachten, ich sei so weit, gefragt, wie ich mir meine Jugendzimmereinrichtung vorstelle, und ich habe gesagt: Kauft, was ihr wollt! Und das haben sie dann auch gemacht. Und darin lebt jetzt meine Mutter. Das ist ihr Nähzimmer. Ich fand die Einrichtung hässlich, blaues Resopal, aber es war mir egal.

War Ihr Gestaltungswille schon zu dieser Zeit allein auf Literatur gerichtet?

Ich habe damals an meinem ersten Roman gearbeitet, bin aber lange Zeit nicht über die Anfangssätze hinausgekommen. Ich habe damals unterschiedslos Schund und Literatur gelesen. Ich kannte den Unterschied überhaupt nicht. Es gibt eine Geschichte von einem Jungen mit einem absoluten Gehör, der völlig heruntergekommen auf den Stufen eines Opernhauses herumlungert und von irgendwem entdeckt wird. So lungerte ich vor dem Haus der Literatur herum mit dem absoluten Willen, dort hineinzukommen.

Ein absolutes Gehör ist aber zu absolut nichts nutz.

Eine Gitarre kann man damit stimmen.

Das kann man auch mit einem relativen Gehör. Helfen einem die Vorstellungen von etwas Absolutem überhaupt weiter oder quälen sie einen nicht eher?

Ich habe dieses Bild gebraucht, aber es beschreibt die Situation nicht vollständig, denn ich hatte schon damals eine Idee von meinen Lücken – und die sind nicht klein. Aber in der Literatur gehört das Unperfekte dazu, die Unfähigkeit, den Ton zu treffen.

Sonst sind wir wieder bei den Büchern, die nichts falsch machen.

Die entstehen aus Konventionen. Ich habe auch versucht, mich in die Gesellschaft hineinzuschreiben, nicht hinaus. Das waren Anpassungsleistungen. Es spielte immer auch eine große Rolle, der Lehrerin zu gefallen. Aber ich halte diese Art von Gehorsam gegenüber den Spielregeln nicht durch, auch beim Schreiben nicht. Der Impuls, zu gefallen, ist schwächer als der Wille, zu missfallen.

Bei vielen Autoren geht die Frage nach dem Grund ihrer Produktion mit der Zeit verloren.

Am Anfang produziert man aus einem Überschuss an Hoffnung und am Ende aus einem Mangel an Alternativen. Ich nehme mich da überhaupt nicht aus. Allerdings habe ich diese Ausweglosigkeit so planmäßig betrieben, dass sie schon allein dadurch eine andere Dimension bekommen hat. Ich habe sie angesteuert wie eine Bucht. Wirklich mit allem, was mir zur Verfügung stand.