„Ein Leuchten wie Vollmond“

Der chinesische Film alter Machart siecht vor sich hin, während unabhängige Filme mit internationalen Preisen überschüttet werden. Ein Dialog über Zensur, Kommerz und digitale Schauspieler

Das folgende Gespräch erschien im vergangenen Jahr in „Yin Yue & Biaoyan“ („Musik & Performance“), einer Fachzeitschrift der Kunsthochschule Nanjing. Gesprächspartner waren Cui Zien, der an der Filmhochschule Peking das Fach Filmtheorie unterrichtet, und He Minwen, Redakteur von „Yin Yue & Biaoyan“.

He Minweng: Der vielleicht bemerkenswerteste Erfolg unserer Filmzensur ist, dass sich eine Vielzahl von jungen, talentierten Filmmachern schlichtweg weigert, mit der offiziellen Seite zu kooperieren. Diese Regisseure nehmen ohne staatliche Erlaubnis an ausländischen Filmfestivals teil und haben dort bemerkenswerte Erfolge erzielt. In der letzten Zeit sind sie mit Preisen geradezu überhäuft worden. Doch im Unterschied zu unseren Sportlern, die im ganzen Land gefeiert werden, wenn sie internationale Wettkämpfe gewinnen, mussten die preisgekrönten Filmregisseure bei ihrer Rückkehr Bußgelder bezahlen und „Selbstkritiken“ schreiben. Ihre Filme kommen in China nicht durch die Zensur und dürfen nicht aufgeführt werden. Mittlerweile ist es in China landläufige Ansicht, dass von der Zensur „genehmigte“ Filme zwangsläufig linientreu und somit von mäßiger oder gar schlechter Qualität sind. Andererseits genießen Filme Kultstatus, die an der Zensur vorbeiproduziert oder gar verboten wurden.

Cui Zien: In einem marktwirtschaftlichen System wird die Filmauswertung vor allem nach kommerziellen Gesichtspunkten gesteuert. Dagegen provoziert ein staatlich kontrollierter Markt wie in China einen blühenden Handel mit raubkopierten Audio-und Videoproduktionen. Das Publikum leistet der Zensur Widerstand, indem es den Kinobesuch durch das Hauskino ersetzt. Problematisch daran ist vor allem, dass die Gewinne, die mit raubkopierten VCDs und DVDs gemacht werden, lediglich die Schwarzhändler bereichern und nicht zur Produktion neuer Filme verwendet werden. Die Filmzensur unterdrückt die Meinungen der Filmschaffenden in allen Bereichen – vom Drehbuchschreiben über die Produktion bis hin zu Verleih- und Vorführungsfragen. Mit der Folge, dass die Filmschaffenden sich dem Untergrundfilm und dem DVD-Format zuwenden.

Die professionelle Filmindustrie hingegen reagiert auf den Druck der Zensurbehörde mit einer Minderung ihrer Fiomproduktionen und verlegt sich stattdessen auf profitable, kinoferne Bereiche wie Werbung, Fernsehen, ja sogar Hotellerie und Gastronomie. In den Augen des Publikums ist die Filmzensur wie ein stinkender Fisch, der zugunsten des nationalen Films früher oder später abserviert werden wird.

He: Auch ich beobachte Symptome, die auf den Untergang des chinesischen Films hinweisen. Der Staat subventioniert nur noch einige wenige Filme, die in aller Regel erfolglos im Kino laufen. Aber auch die kommerziellen US-Filme werden von Publikum wegen ihrer beständig schlechter werdenden Qualität abgelehnt. Insgesamt also gehen Quantität und Vielseitigkeit des Filmangebots stark zurück. Um trotzdem ihr wirtschaftliches Soll zu erfüllen, versuchen die Filmstudios ihre Kontingente zu verkaufen oder sie geben ihre Angestellten für andere Tätigkeiten frei und kassieren dafür „Freigabegebühren“. Diese Situation ist eine denkbar schlechte Ausgangslage für Investoren im Bereich der Filmproduktion: Sofern sie nicht schon bankrott sind, verlegen sie ihre Investitionen jetzt schleunigst in andere Bereiche. Der Filmbereich gilt zurzeit als die risikoreichste Branche überhaupt. Diesen Missstand hat vor allem die Zensurbehörde zu verantworten. Aber die jetzige Situation wird so nicht lange bestehen können: alle Zeichen deuten auf bevorstehende grundlegende Veränderungen hin.

Cui: Ich stimme zu: Der alte chinesische Film liegt im Sterben. Aber ich beobachte auch, dass sich in der brodelnden, höchst lebendigen Szene der Unabhängigen derzeit eine ganz neue Art des chinesischen Filmschaffens entwickelt. Wenn der traditionelle, staatliche Film als „Institution“ überleben will, muss sich in allen Bereichen Grundsätzliches ändern – in der Politik, in der Verwaltungsstruktur, bei der Vergabe von Produktionsmitteln, in den Richtlinien der Zensur und bei der Strategie der Werbung. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, damit sich der chinesische Film den internationalen Verhältnissen anpassen kann.

Es wäre wünschenswert, wenn im neuen Jahrhundert die Produktion „linientreuer“ Filme auf ein Mindestmaß reduziert würde. Film und Fernsehen sollten zudem ihre Wirkungsbereiche trennen. Stoffe, die für das Fernsehen geeignet sind, sollten tatsächlich dem Fernsehen vorbehalten bleiben. Ich plädiere dafür, stattdessen den unabhängigen Film zu fördern und fortan anzukennen, dass bestimmte Formen des Filmschaffens künstlerische Arbeit sind. Den „alten“, opportunistischen und am populären Geschmack orientierten Filmemachern sollte man die Chance geben, sich von der Verführung durch die politische Macht und von der Steuerung des Marktes zu distanzieren, um neue Filme machen zu können. Wenn es wieder Chancen für den chinesischen Film geben soll, muss man zunächst die Altlasten beseitigen.

He: Nach meiner Überzeugung wird auch der technologische Fortschritt des 21. Jahrhunderts den klassischen Kinofilm grundsätzlich verändern. In Zukunft wird Kino nur mehr eines von vielen gleichzeitig existierenden visuellen Medien sein. Die Produktionsweise wird sich schon allein dadurch ändern, dass es nur noch eine fließende Grenze zwischen der Arbeit von Professionellen und Amateuren geben wird. Dadurch verliert die Filmzensur nach und nach ihren Einfluss. „Große“ Kinofilme werden wegen des steigenden Qualitätsanspruchs immer opulenter und erlesener. Ich glaube, dass das klassische Kino nur dann vor dem Untergang bewahrt werden kann, wenn die traditionellen Kinobilder auf der Leinwand die Digitaltechnik übertreffen. Auf der anderen Seite ist voraussehbar, dass digital hergestellte visuelle Produkte dank ihrer ausgereiften Technik die Eroberung des Marktes auf breiter Front fortsetzen werden.

Es wird nicht mehr lange dauern, bis digitale, künstliche Schauspieler so natürlich und wirklichkeitsnah agieren können, dass sie unter ihren menschlichen Konkurrenten eine Massenarbeitslosigkeit auslösen werden. Denn künstliche Schauspieler sind als Arbeitskräfte wesentlich unkomplizierter und in absehbarer Zeit im Produktionsetat sicher auch sehr viel billiger als Menschen. Auch Kameraleuten, Kostümbildnern, Maskenbildnern, Requisiteuren und Ausstattern droht ein ähnliches Schicksal. Dagegen werden Ingenieure und Designer mit Kinoverstand die neuen Stars des zukünftigen Filmschaffens sein. Das Publikum wird auf diese Entwicklungen unterschiedlich reagieren: Kino könnte zu einer Domäne von Experten und Cineasten werden, für die der Kinobesuch vor allem eine Statusangelegenheit ist. Dagegen wird aller Wahrscheinlichkeit nach „die breite Masse“ visuelle Produktionen von Einzelpersonen nur mehr im quasiprivaten oder semiöffentlichen Bereich zur Kenntnis nehmen und ansonsten die visuellen Produkte großer Konzerne aus dem Internet beziehen.

Cui: Ich sehe das Hauptproblem des chinesischen Filmmarkts darin, dass er von Hollywoodfilmen dominiert wird, während es kaum Spielstätten für anspruchsvolle Filme aus China, Europa oder Asien gibt. So sind beispielsweise die Produktionen der Pekinger Filmgruppe „Bei Ying Ji Tuan“, die bereits vor zwei Jahren fertig gestellt und von der Zensurbehörde abgenommen wurden, noch nirgendwo zur Aufführung gekommen. Ein deutliches Beispiel dafür, dass es neben dem offiziellen, planwirtschaftlich organisierten Verleihsystem dringend Alternativen geben müsste, etwa Künstlernetzwerke. Aber die wiederum werden von der Zensurbehörde nicht zugelassen. Womit wir fast wieder beim Ausgangspunkt unseres Gesprächs gelandet sind!

He: Ich bewerte einen Film nicht nach seinem Erfolg an der Kinokasse. Kommerzieller Erfolg macht mich vor dem Hintergrund unserer „Marktsituation“ sogar eher skeptisch. Hierzulande werden die wichtigsten Filme der Weltfilmgeschichte fast auf einer Stufe mit Pornofilmen präsentiert. Wenn Letztere dann mehr Geld einspielen – was für eine Aussagekraft haben diese Zahlen dann noch? Für mich bleiben beispielsweise die Filme des derzeit sehr populären Regisseurs Feng Xiaogang trotz ihres Erfolgs wie das schwache Flimmern von Glühwürmchen im Vergleich zu den Filmen von Theo Angelopoulos, die wie der Vollmond leuchten.

Ich habe nichts gegen Kommerzfilme. Sie haben wie Popmusik oder Auftragsmalerei eine Existenzberechtigung. Es gibt eine große Menge von Zuschauern, deren seelisches Bedürfnis nach Unterhaltung befriedigt werden muss. Aber ich bin gegen die materialistischen Urteile – und damit gegen die Bewertung von Filmen einzig nach ihren Einspielergebnissen.

Aus dem Chinesischen von Herrn YU FANG.Das komplette Gespräch ist dokumentiert im offiziellen Begleitheft der Berlinale 2002