Die knappe Sprache der Bürokratie

„Atlantic Drift“ (Forum) dokumentiert das Schicksal tausender jüdischer Flüchtlinge auf britischem Militärgebiet

Die abendliche Einfahrt in den Hafen St. Louis auf Mauritius löst wirklich alle Versprechungen der Reiseprospekte ein. Aber dem Filmemacher Michel Daëron und seinen Begleitern ist es nicht um Wellenreiten, Paragliding oder sonstige Vergnügungen zu tun. Geradewegs begibt er sich zu einem düsteren, gut bewachten Gemäuer, dem Staatsgefängnis.

Hier und in angrenzenden Wellblechbaracken wurde die Trauminsel für ein paar tausend mitteleuropäischer Juden zum Albtraum, wurden sie 1941 bis 1945 von britischem Militär gefangen gehalten. Daërons „Atlantic Drift“ rekonstruiert die Geschichte einer Irrfahrt, die 1939 im slowakischen Bratislava beginnt. Buchstäblich in letzter Minute gelingt einer großen Gruppe Juden, hauptsächlich aus Deutschland, der Tschechoslowakei und Ungarn kommend, die Flucht zu Schiff über die Donau nach Haifa. Doch die britische Mandatsmacht interniert sie dort hinter Stacheldraht, isoliert sie von Freunden und Verwandten, und zwingt sie auf See zurück. Während der Überfahrt und später auf der Insel werden viele der Flüchtlinge Opfer von Seuchen, manche verzweifeln und bringen sich um.

Zu ihnen gehörte auch der Maler Fritz Händel, der sich kurz vor der Freilassung erhängte, nicht wissend, dass seine Frau amTag seines Freitods erfuhr, dass sie schwanger ist. In seinem Skizzenbuch, in Zeichnungen und Aquarellen hat Händel die Stationen der Irrfahrt festgehalten.

Diese Arbeiten wurden zur Inspiration und zur historischen Quelle Daërons, als er sich entschloss, mit dem Sohn und der Witwe Händels noch einmal nach Mauritius aufzubrechen. Der andere Fund, eigentlich die erzählerische Grundlage für Daërons Rekonstruktion, ist das Tagebuch der damals halbwüchsigen Ruth Sander, einer Leidensgenossin der Familie Händel, die nach dem Krieg in die USA auswanderte.

Um diese beiden Dokumente hat Daëron seinen Film aufgebaut. Um den historischen Rahmen zu erhellen, setzt Daëron einen eindrucksvollen Kontrast, indem er Funksprüche und Korrespondenzen der örtlichen britischen Geheimdienste bzw. Polizeistationen mit dem Foreign Office in London einbaut. Für die englischen Beamten waren die Flucht und der Überlebenskampf der Juden nichts als eine lästige Störung bei ihrem Versuch, die arabisch-jüdische Balance im Mandatsgebiet Palästina aufrechtzuerhalten.

Auch wenn die britischen Behörden damals nicht in Kenntnis des (später geplanten und vollzogenen) deutschen Massenmords an den Juden handelten, so entsetzen doch der kalte Zynismus der Diplomaten und die Teilnahmslosigkeit, teils auch die Brutalität der in Palästina eingesetzten britischen Truppen. Es waren eben „ganz gewöhnliche Soldaten“ unter Stress. Und es ist dieser Kontrast zwischen der Ohnmacht der Opfer und dem kalten Kalkül ihrer scheinbaren Verbündeten, der Daërons Film aus dem Genre der Erinnerungsdokumentationen heraushebt, und ihm auch eine bittere aktuelle Pointe – Srebrenica! – verleiht.

Daërons führt uns kein Epos à la „Exodus“ vor, kein tränenreiches Rührstück. Er lässt die Opfer sprechen, ohne ihre Leiden glorifizierend zu überhöhen. Seine Geschichte erzählt er unsentimental und in präzisen Details. Sie geht uns deshalb nahe.

CHRISTIAN SEMLER

„Atlantic Drift“. Regie Michel Daëron. Österr., Frankr., Israel 2002, 90 Min.