DDR als Truman Show

„Jochen – ein Golzower aus Philadelphia“ (Forum) behauptet Realität. Doch gibt es Golzow wirklich, oder ist es nur Fake? Eine Recherche vor Ort

Ein Filmerverfolgt dieKnirpse bisan ihr Lebensende

Golzow, gibt es das wirklich? Wir hatten Zweifel, ja wir hielten die Langzeitdokus von Winfried und Barbara Junge inzwischen schon für die irre Version einer DDR-Truman-Show. Denn es kann doch nicht tatsächlich sein, dass ein Defa-Filmer 1961 – immerhin das Jahr der Errichtung eines recht massiv wirkenden „antifaschistischen Schutzwalls“ – in eine Kleinstadt im Oderbruch, öhm, einbricht und Erstklässler bei der Einschulung filmt. Nicht einfach so, sondern im Endeffekt mit der Absicht, diese Knirpse, wenn sie es denn zulassen, bis an ihr Lebensende mit der Kamera zu verfolgen.

Die Menschwerdung des sozialistischen Bürgers pfleglich und liebevoll begleitet von Überwachungskameras? Dann wäre die Stasi das Team im Hintergrund, das die Protagonisten an langen Fäden durch ihr Leben unter der Glaskuppel führt.

Golzow 2002: Es laufen tatsächlich Menschen über die Straße, die man irgendwo (natürlich in den Filmen) schon mal gesehen hat. Jeder Ältere, den man anspricht, kennt die Filme. Es gibt sogar ein kleines Golzow-Kinder-Filmmuseum neben der Schule. Viele fahren inzwischen nicht mehr zur Premiere. Fühlen sich nicht sehr gut behandelt. Sie kriegen nicht mal Freikarten, geschweige denn, dass jemand vom Berlinale-Forum vorbeikäme. Früher wurden die Filme auch vor Ort aufgeführt.

Barbara und Winfried Junge geht es noch heute (fast ohne Finanzierung dastehend, auch der ORB will nicht mehr so recht) darum, den Protagonisten ihr eigenes Leben auf dem Heimfernseher vorzuführen. Als schaute man harmlose Super-8-Filme aus der Kindheit. Die wären dann allerdings von den Eltern gedreht. Winfried Junge ist für „die Golzower“ denn auch der Übervater. Jochen wird am Ende des Films sagen: Ich will nicht mehr, ich mach nicht mehr mit. Lass mich in Ruhe mit deiner Kamera. Junge als Autorität, von der man sich distanzieren, abnabeln muss. Er kann nicht aufhören, verfolgt seine Golzower notfalls bis ans Grab.

Jochen, der dickliche Melker, der einmal fast den Melkwettbewerb gewann (Junge kommentiert live wie ein Sportreporter) wehrt sich heute gegen den Filmer, gibt kontra. Sagt ihm, dass er ihm schon damals seine Hochzeit fast versaut habe. „Wir mussten das Mittagesen verschieben, nur wegen deiner blöden Filmerei!“

Junge reflektiert im neuen Film seine eigene Rolle. Das ist neu. Zeigt interessante Aufnahmen der Wendezeit 1990, Demos auf dem Alex mit Bauern, die ein letztes Mal Forderungen an die DDR-Führung stellen.

Also nach Golzow reisen. Der real existierende Ort war, so erzählen die Leute in der Bäckerei, auch für die DDR ein besonderer Ort. Es war einiges los. Der Chef der LPG – es war mit 600 Arbeitskräften die angeblich erfolgreichste der DDR – war so pfiffig, den Buletten (so nennt der Land-Ostler den Berliner gern) in der Staatsführung immer neue Routen für Staatsbesucher vorzuschlagen. Weil die Straßen und Landwege an diesen Stellen schöne neue Betonplatten erhielten. Oder sogar Asphalt. Es war also ganz schön in Golzow.

Ein Vorzeigeort für „Tier- und „Pflanzenproduktion“. Honecker tauchte auf, manchmal hatte er Freunde aus Bruderstaaten im Schlepptau. Die Golzower schwenkten Fähnchen für Kim Il Sung (Nordkorea), der im Stretch-Volvo die Dorfstraße entlangtuckerte. Auch Indira Gandhi war da.

Dann kam die Defa vorbei, das Fernsehen war ja auch dauernd auf der Fahrt Richtung Kietz-Küstrin. Winfried Junge also 1961 in Golzow. Eine erste Klasse wird eingeschult. Wir sehen ein schmuddelig-graues Gebäude. Die Schule steht heute noch da, sie sieht nur nicht so grau aus wie auf Junges Material von damals. Überhaupt ist der Ort anders als die Kulisse des Films, natürlich.

2002 fahren neben der Schule Jugendliche auf Skateboards rum. Ein Teil des Grundschulgebäudes ist ihr Clubhaus. Eine neue Skatboardbahn, daneben ein bunter Spielplatz. Nach Nazikids schaut man vergeblich, und auch der Berliner Türke, der im Imbiss gegenüber Döner und Pommes verkauft, ist ganz froh in Golzow.

Gegenüber vom Imbiss und der Schule ist der zentrale Dorfplatz. Er kommt nicht vor bei Junge, muss also neu sein. Hier steht eine Granitskulptur, eingraviert sind die wichtigsten Daten zu Golzow. „1308: erstmals erwähnt als Gholsow. 1740: Dorf brennt ab. 1952 Gründung der LPG Einheit. 1961 Beginn der Dreharbeiten ‚Kinder von Golzow‘ “.

ANDREAS BECKER

„Jochen – ein Golzower aus Philadelphia“. Regie: Barbara und Winfried Junge. Deutschland 2001, 119 Min.