„Ohne Schnörkel, ohne jedes Zuviel“

Spielen bedeutet, sich zu verhalten, als ob man völlig unbeobachtet sei. Ganz bei sich bleiben ist keine einfache Aufgabe mit einer Kamera direkt vor der Nase, da muss man gegen sich selbst antreten, wie beim Golf: Tilda Swinton über die Kunst des Schauspiels und ihren neuesten Film „Deep End“

von BIRGIT GLOMBITZA

taz: Wie wird aus Tilda Swinton, Tochter eines schottischen Offiziers, aufgewachsen im britischen Hochadel und Absolventin derselben Lehranstalt wie Lady Di, eine amerikanische Mittelklasse-Hausfrau?

Tilda Swinton: Egal woher man kommt, man braucht nur die Augen aufzuhalten, um schnell zu begreifen, wie Frauen aus diesen Schichten leben. Welchen „bourgoisen Deal“, so nenne ich das jetzt mal, sie eingegangen sind, um ihre Kinder großzuziehen und ihre Ehen zu führen. Mit Traditionen und Verhaltensregeln, die bis zum Kauf eines angemessenen Autos oder anderen Ausdrucksformen des erreichten, vermeintlich individuellen, Glücks einfach alles regeln. Das sind Menschen, die in Strukturen leben, die selbst schon beklemmend sein können. Das macht sie so erpressbar. Bei Existenzen, die gar nichts mehr zu verlieren haben, ist das ganz anders. Für meine „Margaret Hall“ musste ich einfach viel beobachten und auswerten, ein geradezu forensischer Job.

Wie wichtig war Max Ophüls’ „The Reckless Moment“, der den Stoff bereits 1949 bearbeitete, für Ihre Spurensicherung?

Ich schätze Max Ophüls’ Film sehr. Aber die Romanvorlage „The Blank Wall“ von Elisabeth Sanxay Holding ist noch viel moderner, radikaler und vor allem völlig unsentimental in ihrer Darstellung von Mutterschaft. Die literarische Vorgängerin von Margaret – im Buch heißt sie Lucia – ist noch viel rebellischer und setzt sich noch viel handfester zur Wehr. Im Vergleich zu Lucia ist Margaret bei Ophüls noch recht devot, eine Frau, die ihre ganzen Fähigkeiten nicht gleich zu erkennen gibt, die irgendwie untergetaucht ist unter die Oberflächen des liberalen Bürgertums. Diese Oberfläche zu durchbrechen, zu zeigen, dass Familie ein seltsames Konstrukt ist, in dem traumatische Ereignisse nicht geteilt und kommuniziert werden, das ist wiederum ein Realismus, der den Ophüls-Film, aber auch „Deep End“ so spannend macht.

Und was zeichnet Ihre „Margaret Hall“ aus?

Die ist eine eher niedergeschlagene als unterdrückte Frau, die jetzt in Bedrängnis vergessene Stärken wieder mobilisieren muss und auch kann. Als Offiziersfrau gehört es zu ihren Aufgaben, genau wie bei vielen Heldinnen der Melodramen aus den 40er-Jahren, das Heim ganz alleine „sauber“ zu halten, dem Krieg an der heimatlichen Front ohne viel Aufsehen und, wohlgemerkt, ohne eine mitkämpfende Truppe zu überstehen und möglichst für sich zu entscheiden.

Wie altmodisch oder wie modern ist die Referenz zu „women’s picture“ der 40er?

„Deep End“ überführt eine filmische Tradition in das Kino der Postmoderne. Die Tradition nämlich, das Melodrama zum Film noir aufzuputzen. Ich nenne das gerne „Film gris“. Ein Film über eine Frau, die sich denkend und schweigend durch eine Krise manövriert. Altmodisch ist hier weniger das Frauenbild, wie man oberflächlich betrachtet meinen könnte. Tatsache ist, Mythos und weibliche Repräsentationen hin oder her, dass viele Frauen immer wieder in Situationen geraten, in denen sie sich um alles, bloß nicht um sich selbst kümmern können.

Ist die Realität altmodisch?

Genau, die Realität in einem George-Bush-Amerika, in dem die Frau wieder klar definierte und höchst konservative Aufgaben zu erfüllen hat. Das ist sehr interessant auch für das amerikanische Mainstream-Kino, in dem die Muttertiere der Superlative eine eigene Tradition haben und vielleicht gerade jetzt wieder im Kommen sind, wo doch der terroristische Aggressor rund ums Haus lauern kann. Was aber „Deep End“ angeht, hat sicher auch die hohe Moral, die sowohl Margaret als auch witzigerweise ihr Erpresser Alek an den Tag legt, als er sich gegen seinen Chef und auf die Seite des Opfers stellt, etwas Altmodisches. Aber im guten Sinne. Alek ist beeindruckt von Margarets Kraft, die resolut den Leichnam entsorgt und sich dann mit ihrer Tochter über den Zustand des Automotors verständigt. Die mit der einen Hand das Herz des ohnmächtigen Schwiegervaters massiert und mit der anderen Alek zur Mithilfe heranzitiert. Alek wollte Margaret finanziell ausnehmen, aber niemals quälen. Auf so gesehen altmodische Weise wird aus dem schwarzen Mann in ihrem Vorgarten ein Engel an ihrer Seite.

Was war für Sie beim Spielen besonders schwierig?

Den Überblick zu behalten, sich die Strukturen zu vergegenwärtigen, die Margarets Handeln bestimmen. Zu versuchen, die Geschichte mit ihren Augen zu sehen. Sich aber nicht dazu hinreißen lassen, an ihrer Stelle zu reagieren. Nicht zu schnell mit Expressivem und eigenen Deutungen herauszuplatzen und alles an sich zu reißen. Nachdenken und es einfach spielen. Ohne Schnörkel, ohne jedes Zuviel. Margaret ist dafür ein sehr dankbarer Charakter. Denn sie spielt selbst die ganze Zeit, nimmt sich komplett zurück, versteckt ihre Angst ebenso wie ihre Stärke.

Reflexion, schlichtes Spiel, sind das die Gründe, warum Sie sich selbst lieber als Performerin, weniger als Schauspielerin sehen?

Komisch, darauf werde ich immer angesprochen. Das muss ich in früheren Interviews ja bis zum Exzess betont haben. Für meine Arbeit in „Orlando“ hat das sicher gestimmt. Dort musste ich mit Tableaus arbeiten, da wäre jedes Spielen im herkömmlichen Sinne störend gewesen. Verkörpere ich aber eine ganz individuelle Figur wie Margaret, muss ich auch überzeugen. Ohne Schauspielen funktioniert so etwas leider nicht. Dennoch versuche ich, ganz nach Bressons Empfehlung, so wenig wie möglich zu spielen. Das Spiel soll unsichtbar werden.

Sie haben die Arbeit vor der Kamera immer der auf der Bühne vorgezogen. Warum?

Als ich zunächst beim Theater anfing, hieß es nur: Lern deinen Text und schmeiß die Requisiten nicht um! Gelerntes zu sprechen, sich an der Rampe in Posen zu werfen, dafür musst du weder mit dem Verstand noch mit dem Gefühl dabei sein. Das hat nichts mit dem zu tun, was ich wollte.

Für die meisten ist ein Close-up der heiß begehrte Anfang allen Startums. Andere fürchten, bei so einer Einstellungsgröße einzubrechen. Für Sie ist der Platz direkt vor der Linse einer der, wie Sie sagen, „friedlichsten Orte auf der Welt“. Wie ist das zu verstehen?

Spielen oder Performen bedeutet auch, dass ich mich verhalte, als sei ich völlig unbeobachtet. Um das zu lernen, habe ich die Bewegungen und die Gesichter von Leuten studiert, die bei irgendwelchen Dokumentarfilmen unwissentlich ins Bild gerieten. Ganz bei sich zu bleiben ist keine einfache Aufgabe bei einem Team von 30 Leuten, etlichen Scheinwerfern und einer Kamera direkt vor der Nase. In solchen Momenten muss man gegen sich selbst antreten, wie beim Golf. Man muss sich zu einer inneren Ruhe zwingen, die sich zu einer regelrechten Meditation ausweiten kann. Das macht die Arbeit vor der Kamera so friedlich.

Derek Jarman war bis zu seinem Tod 1994 Ihre „Familie“. Die war Ihnen immer wichtiger als Drehbuch oder Konzept eines neuen Projekts. Haben Sie eine neue Familie gefunden?

Mit 24 traf ich Jarman. Bis ich 32 war, arbeiteten wir zusammen. Das waren meine Lehrjahre. Der Anfang von allem. Seitdem muss ich am Küchentisch mit den Leuten, und meinetwegen nächtelang, über das Projekt reden. Man muss sich auseinander setzen, etwas gemeinsam entwickeln. Diese Art Gespräche habe ich inzwischen auch mit anderen Regisseuren und Regisseurinnen.

Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass so ein Gruppen-Groove bei Filmen großer Studios wie „Vanilla Sky“ oder „The Beach“ entstehen kann …

Oh, das ist ein ganz anderes Kapitel mit der Überschrift „Tilda light“. Auch wenn wieder – so banal das auch klingt – ein gutes Gespräch mit Danny Boyle oder Cameron Crowe ausschlaggebend war. Klar gab es so lustige Fragen, wie man es denn mit Bodyshaping halte. Und bei solchen Gelegenheiten habe ich bis heute kein Problem, deutlich zu machen, dass ich herzlich wenig davon halte. Aber ich muss gestehen, ich habe diesen Illusionismus, diesen Showbiz-Zirkus sehr genossen. Genau wie dieses schöne Licht, das jedes Fältchen wegzaubert und einen wunderbar frisch aussehen lässt. Auch das ist, wie Orlando und interessanterweise auch meine Figur in „Vanilla Sky“ – eine Virtual-Reality-Maklerin – sagen würde, eine Form von „life extension“.