Familienfest mit Klonen

Er denkt viel über eine Theater und Film verbindende Bühnensprache nach: Der Godard-Verehrer Igor Bauersima hat im Lauf des Inszenierens ein neues Theaterstück verfasst. In „Futur de Luxe“ am Schauspiel Hannover erweist sich seine Ästhetik der medialen Überschneidungen als tragfähig

von JÜRGEN BERGER

Man könnte meinen, er sei schüchtern. Die Texte seiner Theaterstücke jedenfalls bekommt man vor der Uraufführung nicht zu Gesicht. Der Grund liegt freilich darin, dass Igor Bauersima eine allmähliche Verfertigung von Texten während des Inszenierens praktiziert. „Jedenfalls empfand ich diese Zeit, in der wir das Stück entwickelten, manchmal beängstigend, da ich drei Monate vor der Premiere noch kein Stück in der Hand hatte“ sagte er, als er „Die Pflicht glücklich zu sein“ zusammen mit seiner Zürcher Off-Off-Bühne entwickelte. Damals war er unbekannt. Das änderte sich schlagartig mit der Uraufführung von „norway.today“ vor zwei Jahren in Düsseldorf. Mit diesem Stück wurde er Nachwuchsautor des Jahres. Inzwischen ist die Geschichte der beiden Internet-Suizidenten, die sich per E-Mail zum Selbstmord auf einer norwegischen Eisklippe verabreden, auf fast jeder deutschsprachigen Bühne vertreten. Und das gilt auch für seine neuen Projekte. Demnächst bringt Bauersima in Düsseldorf „Tattoo“ zur Uraufführung. Und am Wochenende gab es „Futur de Luxe“ am Schauspiel Hannover.

Im Vorfeld war zu erfahren, der neue Writing-in-Progress-Text handle von der jüdischen Familie Klein; Papa Theo sei Wissenschaftler und lüfte während eines Familienessens ein Geheimnis. Man konnte annehmen, Bauersima werde sich wieder mit den Sollbruchstellen brüchiger Identitäten auseinander setzen. Doch dann ging es an erster Stelle um Regisseur Bauersimas avancierte Bühnenfilm-Schnitttechnik.

In „Futur de Luxe“ sitzt das Publik auf zwei Tribünen rechts und links einer Blackbox. In ihr diniert die Familie Klein. Das große, erlesen ausgestattete Wohnzimmer wirkt zu den beidseitigen Tribünen hin wie ein überdimensionaler Container, der gleichzeitig alles verbirgt und entbirgt. Die Vorhänge der langen Schiebetürfronten können mit Vorhängen geschlossen werden. Geschieht das, ist auf den Vorhängen als Film zu sehen, was sich gerade in anderen Zimmern des Hauses ereignet, oder man sieht, was geschehen ist und noch geschehen könnte.

Mit dieser Ästhetik medialer Überschneidungen schafft Bauersima eine fugenlose Verbindung von „realem“ Bühnen- und „fiktivem“ Filmgeschehen. Das Ganze wirkt nicht mehr wie einer jener verkrampften Versuche, mit der Inszenierungen multimedial aufgemotzt werden. Als Zuschauer wandelt man auf dem schmalen Grat eines „So könnte es sein“ und „Kann das wirklich so sein?“. Frappierend wird das Ganze, wenn einzelne Familienmitglieder bei geschlossenem Vorhang und laufender Filmgeschichte durch eine der Schiebetüren heraustreten, vor dem Haus am Meer Luft schnappen oder ihren Familienstreit abseits gerade nicht erwünschter Ohren weiterführen.

Dass der Streit eskaliert, ist absehbar. Denn was Prof. Theo Klein (Dieter Hufschmidt) seiner Familie im Jahr 2020 zum Dessert als Familiengeschichte auftischt, ist von abgründiger Qualität. Er, der Gentechnologe Theo, habe Anfang des Jahrtausends endlich die Frage klären wollen, ob das Böse und Gute genetisch fixiert seien, und er habe noch vor der gesetzlichen Freigabe des reproduktiven Klonens einen absolut bösen und absolut guten Menschen klonen wollen, um dann zu sehen, ob sie auch tatsächlich gut oder böse werden. Die gute Nachricht: Beide entwickelten sich unabhängig von ihren Anlagen und sind ganz einfach nur anständig. Die schlechte Nachricht: Die Versuchsschafe sind die beiden anwesenden Söhne. Rudi (Gunnar Blume), der auf dem Pfad des Vaters wandelnde und um Korrektheit bemühte Wissenschaftler, ist ein Klon aus einem Finger Hitlers, den ein Wachmann im Bunker nach dem Selbstmord des Führers abgeschnitten hat. Und Felix (Florian Stetter), der kiffende, etwas müde Künstler, darf sich freuen, in Vater Theo seinen älteren Zwilling zu sehen.

Das hört sich nach einer Räuberpistole an und ist es teilweise auch. Dass das Ganze nicht abstürzt, hat damit zu tun, dass Bauersima mit unterschiedlichen Genres spielt und auch als Regisseur die Stile wechselt. Auf die Familientragödie folgt die Farce, auf die Splatterepisode eine elegische Sequenz, in der die öko- und ethikfundamentalistische Tochter Uschi (Janina Sachau) am Klavier Satie zum Besten gibt. In der etwas längeren innerfamiliären Ethikdebatte nach der Offenbarung Theos schleicht sich ein gekünstelter Theorie-Ton in Bauersimas Dialoge ein. Ansonsten allerdings wirkt „Futur de Luxe“ wie aus einem Guss.

Mutter Ulla, die für ihre Söhne nach dem neuesten Stand der Familenverhältnisse plötzlich zum Objekt der Begierde werden kann, wird von Oda Thormeyer als eine um den Erhalt der Einzelteile ihres Körpers bangende Frau am Rande des Zusammenbruchs gespielt. In ihrem Schlussmonolog meint sie, mit einem derart berühmten Gatten an der Seite sei sie ja wohl zumindest die „First Lady of Science“. Kann sein. Wir dagegen warten auf Düsseldorf und Bauersimas nächstes Learning-by-Writing-Stück.