Eine besondere Fähigkeit des Menschen

Seit Jahren ist der Selbstmord zu einem beliebten Thema der Sozialwissenschaftler geworden. Neu und gut ist Ursula Baumanns ergiebige Studie

Erinnert sich noch jemand an Hannelore Kohl? Letztes Jahr nahm sich die Frau des Altkanzlers das Leben und produzierte damit ebenso fette Schlagzeilen wie tief schürfende Debatten. Damals wurde offenkundig, dass im Laufe des letzten Jahrhunderts eine entscheidende Veränderung eingetreten ist: Der private Selbstmord hat in der Gesellschaft seine provozierende Wirkung verloren. In der modernen aufgeklärten Gesellschaft scheint nichts Anrüchiges mehr dabei zu sein, sich selbst zu töten. Man könnte sagen, dass es einfach so geschieht.

Seit Jahren existiert ein außerordentliches Interesse an einer Geschichte dieser Todesart. Die wissenschaftliche Literatur zum Thema ist ohne Zahl. Da wundert man sich schon, dass noch immer ergiebige Studien erscheinen. Eine solch ungewöhnlich ergiebige Arbeit ist die jüngst erschienene Habilitationsschrift von Ursula Baumann, die eine detaillierte historische Untersuchung des Selbstmords vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein bietet. Die Entscheidung, sich auf diesen Zeitraum zu beschränken, ist keineswegs willkürlich, sondern umfasst die drei entscheidenden Jahrhunderte des durch die Aufklärung eingeläuteten säkularen Zeitalters. Die Definitionsmacht der Theologen über den Selbstmord nimmt sukzessive ab, die Menschen haben allmählich weniger Vorbehalte gegen die Entscheidung zum eigenen Tod, die oft genug kaum mehr nachzuvollziehen sind.

Thematisch brisant wird der Selbstmord dort, wo er aus seinem gewohnten Umfeld herausfällt und die ganze Öffentlichkeit angeht: Das gilt etwa für den internationalen Terrorismus oder die Sterbehilfe bei unheilbar Kranken. Dank solcher Streitfälle verschwindet der Selbstmord nicht aus dem Blickfeld der Moderne. Zusammen mit der Fähigkeit, über das Feuer zu verfügen, dürfte die Fähigkeit, sich das Leben zu nehmen, eine der kennzeichnenden Charakteristika des Menschen sein. Die jeden von uns auszeichnende Befähigung zum Selbstmord erscheint als eine der archaischsten menschlichen Erbschaften überhaupt. Das Geschehen des Selbstmords hat die Menschen ziemlich lange verfolgt, sogar heimgesucht, es ist eingesetzt worden, um Glaubenssätze mit Angst zu bewehren und soziale Herrschaft durchzusetzen, war aber auch immer ein Motiv individueller Freiheit und ist als solches genutzt worden. Dafür braucht heute niemand mehr die Fähigkeit, sich zu töten. Es gibt andere Wege, sich als Individuum in Freiheit zu setzen.

Baumann zeichnet sehr behutsam den Prozess einer „Sozialisierung“ des Selbstmords nach. Dazu stützt sie sich auf ein ungemein breites Material, das von literarischen Zeugnissen und Abschiedsbriefen über Statistiken, Verordnungen, gelehrte Abhandlungen bis zu den zeitgenössischen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskursen reicht. Dabei wird vor allem deutlich, wie der Selbstmord von der jeweils tonangebende Disziplin dämonisiert wurde. Die Philosophie übernimmt die Abneigung gegen den Freitod von der Theologie – allerdings schon seit David Hume mit deutlich abweichenden Tönen. Als die Philosophie sich mit dem Selbstmord arrangiert hat, ist es die junge Soziologie in Gestalt Emil Durkheims, die gegen den Selbstmord als einen Indikator kultureller Degeneration zu Felde zieht.

Im 20. Jahrhundert kommt es schließlich zu einer Inflation des Selbstmords als „kollektivem Erlebnis“ in Krieg, Vernichtung und Nachkrieg. Damit ist die Besonderheit des Selbstmords beendet. Nach 1945 werden über das Recht auf den eigenen Tod keine großen Debatten mehr geführt, es sei denn in Hinblick auf jene mittelbar mit ihm verbundenen Themen. Obwohl er weiterhin geschieht, ist der Selbstmord zum Gegenstand der Sozialgeschichte geworden.

JÖRN AHRENS

Ursula Baumann: „Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20.Jahrhundert“, 407 Seiten, Böhlau Verlag, Weimar 2001, 39,90 €