Leichter Burkablick auf die Leinwand

Kultur in Kabul (I): Es gibt wieder Kino in Afghanistan. Im Park Cinema läuft der Bollywoodstreifen „Lootere“. Der Film ist völlig zerkratzt und ohnehin nie richtig scharf. Die Kampfszenen in US-Produktionen gefallen dem Publikum zwar besser, vermisst wird in ihnen aber der Gesang

von SVEN HANSEN

Morgens um kurz vor zehn Uhr herrscht an diesem Feiertag des islamischen Opferfests Hochbetrieb am Eingang des Park Cinema im Schar-i-Nau-Park von Kabul. Zwei mit Kalaschnikows bewaffnete Kartenabreißer durchsuchen die Kinobesucher nach Waffen, bevor sie in das heruntergekommene staatliche Filmtheater gelassen werden. Der Besuch ist nur männlichen Besuchern gestattet, Mädchen und Frauen haben wie schon unter der Regierung der Mudschaheddin von 1992 bis 1996 keinen Zutritt. Dafür dürfen sich kleine Jungen schon Gewaltfilme anschauen.

Von einst elf Kinos in Kabul wurden in den Machtkämpfen der Mudschaheddin in den 90er-Jahren vier zerstört, ein weiteres wurde unter den Taliban – die alle Kinos schlossen – in ein Restaurant verwandelt. Die restlichen sind seit Ende November wieder in Betrieb.

Ein riesiger Wasserfleck ziert die Leinwand des Park Cinema. Der von zwei Glühbirnen spärlich erleuchtete Saal ist nicht geheizt, die ungepolsterten Sperrholzklappsitze sind kalt, ungemütlich und zum Teil zerbrochen. Obwohl das Kino mit über 500 Besuchern brechend voll ist, kann man den Atem sehen. Später kriecht die Kälte die Beine hoch. Das Publikum im Alter von zehn bis dreißig Jahren pfeift und schreit schon vor dem Beginn des Films wie europäische Teenies bei einem Popkonzert. Kleine Jungen verkaufen Erdnüsse und Mandeln, die sie auch während der Vorstellung in den Gängen anpreisen.

Als die beiden Funzeln erlöschen, geht es ohne Werbung oder Vorfilm direkt los. Zunächst scheint es, als würde man den schiefen Bildausschnitt auf der Leinwand durch eine Burka betrachten. Der Film ist völlig zerkratzt, hat mächtige Streifen und ist ohnehin nie richtig scharf. Doch die Zuschauer scheint der milchige Burkablick nicht zu stören. Zudem können sie die in Hindi gehaltenen Dialoge des indischen Bollywood-Streifens namens „Lootere“ ohnehin nicht verstehen. Untertitel gibt es auch keine, die würde bei der Analphabetenquote die Hälfte des Publikums nicht lesen können.

Die zerkratzten Bilder sprechen trotzdem für sich. Ein junger durchtrainierter Polizist, unschwer als Held zu erkennen, verliebt sich in eine attraktive Frau, die nach einigen Gesangseinlagen von den Schergen eines Klavier spielenden Bösewichts entführt wird. Während der Held sich auf die Suche nach seiner Geliebten macht, wird die Entführte von einem „guten“ Schergen vor den anderen Bösewichtern beschützt. Das macht dessen Geliebte eifersüchtig, die ihn deshalb beim Oberbösewicht anschwärzt. Als die Schöne schließlich vom Held gefunden wird, kommt es zum Kampf zwischen ihren zwei Anbetern. Doch die Schöne schafft es, deren überschüssige Energien gegen den Oberbösewicht zu lenken.

Während des Films bleibt die elektrische Stromversorgung zum Glück halbwegs konstant. Doch jedes Mal, wenn der Ton ausfällt, fängt das Publikum sofort stürmisch an zu pfeifen. Sogleich gehen die zwei Funzeln an, der Film wird angehalten, um kurz darauf mit Ton weiterzulaufen. Viele Schnitte im Film wirken so, als würden ganze Passagen fehlen. Ob sie der Zensur oder der Materialermüdung zum Opfer fielen, bleibt unklar.

Da die Zuschauer die Dialoge nicht verstehen, die wahrscheinlich ohnehin nicht sehr tiefsinnig sind, gibt es für sie auch keinen Grund, leise zu sein. Vielmehr ist es während der Vorstellung laut wie auf dem Pausenhof einer Schule. Außerdem kommen ständig Leute herein oder gehen hinaus. Sobald mal wieder jemand vergessen hat, die Seitentür zuzumachen, durch die grelles Sonnenlicht hereindringt, beginnt ein Pfeifkonzert. Immer wieder leuchten die Kinobesucher mit Taschenlampen oder zünden Streichhölzer an, um den Weg zu finden. Viele rauchen, und gelegentlich wehen kräftige Haschischwolken durch den Saal.

Bei Kampfszenen gibt es lauten Applaus und begeisternde Pfiffe. Auch als die Schöne – die im indischen Sari und damit ganz unafghanisch ohne Burka oder Kopftuch gekleidet ist – dem Oberbösewicht eine saftige Ohrfeige verpasst, findet das lautstarke Anerkennung. In einer kurzen Pause kommt es dann im Publikum selbst zu einer handfesten Keilerei. Die Zuschauer begreifen das offenbar als Live-Unterhaltung in ihrem Feiertagsprogramm und feuern die Kontrahenten noch an. Erst ein beherzt eingreifender Polizist kann die Streithähne voneinander trennen und damit die Aufmerksamkeit wieder auf die nächste Schlägerei im Film lenken.

Am Ende des Streifens kommt es zum erwarteten Showdown zwischen Held und „gutem“ Schergen sowie dem Oberbösewicht samt dessen Handlangern – ausgetragen mit Kalaschnikows und Panzerfäusten bei wilder Autoverfolgungsjagd auf Bombays Straßen. Doch bevor das Gute siegt, wobei der „gute“ Exscherge natürlich als Bauernopfer dran glauben muss, erheben sich schon fünfzig Zuschauer. Zum Teil gehen sie raus, zum Teil bleiben sie aber auch stehen und zwingen damit weitere Zuschauer aufzustehen, die noch das Ende sehen wollen.

Der 16-jährige Barialai ist begeistert: „Mir haben die Musik und die Kampfszenen sehr gefallen.“ Die Dialoge habe er nicht verstanden, das störe ihn aber nicht. Seit Vertreibung der Taliban gehe er einmal pro Woche ins Kino. Gerne schaue er auch amerikanische Filme, aber da vermisse er den Gesang. Der 17-jährige Amanullah Fazeh gesteht, dass er noch nie einen Kinofilm in seiner Muttersprache Dari gesehen habe. Bei US-Filmen finde er die Kampfszenen und Schießereien besser als bei indischen, doch bei diesem habe es ihm besonders die Frau angetan. „Die sah toll aus“, sagt er. Die vor dem Kino angebotenen Postkarten leicht bekeideter indischer Filmsternchen kaufe er aber nicht, versichert er. Der in einem Armeeparka gekleidete Verkäufer, an dessen Stand großes Gedränge herrscht, verkauft nach eigenen Angaben fünfzig Postkarten am Tag.

„Die Kinofilme, die wir hier zeigen, stammen noch aus der Zeit vor den Taliban“, sagt Kinomanager Adul Baschir. „Ich habe sie all die Jahre versteckt und kann sie jetzt endlich wieder zeigen.“ Um 10 Uhr, 13.30 Uhr und 15.30 Uhr gebe es Vorstellungen. Die morgens laufe am besten, sagt Baschir. Dreißig Prozent der Einnahmen könne er behalten, den Rest müsse er an die Regierung abführen, der das Kino gehöre. Zur Zeit der russischen Besatzung habe es auch abends Vorstellungen gegeben, da durften auch Frauen ins Kino, erinnert er sich. Jetzt habe er beim Kulturministerium eine Lizenz beantragt, um neue Filme importieren zu dürfen. Seit Wochen warte er auf eine Antwort. „So lange zeige ich noch die alten Filme.“