Der Antibildungsroman

Das Interesse gilt nicht dem Mythos, sondern den politischen und sozioökonomischen Implikationen des historischen Kriminalfalls: Allen und Albert Hughes „Jack the Ripper“-Adaption „From Hell“

von ANDREAS BUSCHE

Die Milieus, in denen die Hughes Brüder Allen und Albert ihre Filme ansiedeln, haben sich seit ihrem Debütfilm „Menace 2 Society“ kaum verändert. Das Suburbia-Ghetto von Watts unterscheidet sich nur oberflächlich vom pittoresken Whitechapel District des viktorianischen Londons, in dem ihr neuer Film „From Hell“ spielt: Gewalt bleibt hier wie dort die einzig verbindliche Sprache, und ihre Überpräsenz schafft eine Atmosphäre permanenter Anspannung. Das Leben im Ghetto findet unter der Prämisse absoluter Selbstkontrolle statt: Am unteren Ende des sozialen Spektrums ist Paranoia die wesentliche Überlebenstechnik.

Die jüngste Ghetto-Adaption der Gebrüder Hughes führt dabei allerdings in ein archaisches Territorium wenig strukturierter Gewaltformen. In ihrer Version vom Whitechapel des Jahres 1888, das Jahr, in dem „Jack the Ripper“ während des so genannten „Autumn of Terror“ fünf Prostituierte bestialisch massakrierte, eskaliert Gewalt an jeder Straßenecke. Allen und Albert Hughes waren nicht an einer Fortschreibung des niederschmetternden Ghetto-Realismus ihrer Filme „Menace 2 Society“ und „Dead Presidents“ interessiert, als sie sich vor einigen Jahren dazu entschlossen, die Graphic Novel „From Hell“ von Alan Moore (Autor) und Eddie Campbell (Zeichner) zu verfilmen. „From Hell“ galt Ende der 80er-Jahre als der ambitionierte Versuch eines epochalen Comics, der die Taten von „Jack the Ripper“ in einem kruden Fakten/Fiktion-Potpourri als Vorhut eines humanistischen Werteverfalls – an der Schwelle zum Jahrhundert der Weltkriege und Genozide – überzuinterpretieren versuchte. Die Apokalyptik dieser Deutung, zu der auch die Zeugung Adolf Hitlers im österreichischen Braunau parallel montiert wurde, zeigte sich schon in Campbells rüden Schraffuren seiner holzschnittartigen Bildtafeln. Die Begrenzungen der Bilder wurden fast zu klein, die Linien schienen aus dem klaustrophobischen Comicfenster ausbrechen zu wollen.

Dementsprechend tableauartig ist den Hughes Brüdern auch das Setting der Graphic-Novel-Adaption ausgefallen. Gleich zur Eröffnung gleitet die Kamera unter dem opiumgeschwängerten Blick Johnny Depps aus der Panorama-Totalen in die pfuhligen Straßenzüge von Whitechapel hinab. Und dieses Whitechapel der Hughes Brüder ist noch viel mehr Hölle, als es selbst Campbell in seinen Zeichnungen imaginierte: ein erzviktorianisches Gotham City, in dem der Mob, weggeschlossen vom gesellschaftlichen Leben, seine eigenen archaischen Organisationsformen entwickelt hat. Dass „From Hell“ der bisher beste „Gothic Horror Comic“-Film der letzten Jahre geworden ist – „The Crow“ weit überlegen – ist nur ein positiver Nebeneffekt des hehren Anliegens der Gebrüder Hughes.

Depp spielt den Typus des gebrochenen Polizisten, wie er im Kino eigentlich erst mit dem Copfilm der 70er-Jahre eingeführt wurde. In der Vorlage, die sich zumindest bei formalen Äußerlichkeiten akribisch an historische Vorgaben hält, ist die Figur des Inspector Fred Abbeline psychisch wesentlich gefestigter. Im narkotischen Blick Depps aber offenbart sich eine exemplarische Kaputtheit, von der die Hughes Brüder bildgewaltig erzählen wollen. Die Suche nach dem abgetauchten Abbeline führt seinen Partner Peter Godley immer wieder zurück in die Opiumhöhlen von Whitechapel, wo Abbeline seine dräuenden Todesvisionen in Opiumschwaden zu verdrängen versucht. Man erkennt sehr früh die Affinität der Hughes Brüder für solche Rituale der Selbstzerstörung, wenn sie Abbelines Drogenzeremonien Schritt für Schritt verfolgen. In ihren Laudanum-geschwängerten Bildern findet sich trotzdem kein Zeichen von Erlösung. Die spritzigen Drogencocktails, die hier gemischt werden, sind die überpointierte Metapher für das Scheitern der englischen Klassengesellschaft.

Auf die berechtigte Frage, was sie am „Jack the Ripper“-Stoff überhaupt interessiert hat, haben Allen und Albert Hughes in einem Interview geantwortet, dass es ihnen weniger um den Mythos als vielmehr um die politischen und sozioökonomischen Implikationen ging, die in dem historischen Kriminalfall angelegt sind: die Dekadenz einer selbst erklärten weißen Führungselite, ihre Korrumpierbarkeit und die Gewalt, die aus diesen Machtverhältnissen erwächst. Da berufen sich die Hughes Brüder mit „From Hell“ natürlich auf eine historisch zweifelhafte Quelle: „From Hell“-Autor Alan Moore hat seine Graphic Novel im Wesentlichen auf der inzwischen längst für unhaltbar erklärten „Königshaus“-Verschwörung aufgebaut, laut der der „Ripper“ im Auftrag der Königin von England gehandelt hätte, um einen Skandal im Buckingham Palace zu vertuschen. Der „Ripperologe“ Stephen Knight hatte diese Theorie in seinem Buch „The Final Solution“ (1978) entwickelt, war aber schon bald von anderen „Ripper“-Experten widerlegt worden. Seine Verschwörungstheorie hat sich trotzdem bis heute wacker behauptet.

Für Allen Moore war sie als Handlungsgerüst natürlich nur recht und billig, um seinem Abgesang auf die Zivilisation mit der Demontage des britischen Empire gleich in angemessene Dimensionen zu schrauben. Die Hughes Brüder nutzen den nihilistischen Schwung von Moores historischer Allegorie allerdings nicht zur Verifizierung eines epochalen Antibildungsromans. Sie versuchen sich vielmehr an einer „Oral History“ des englischen Subproletariats des späten 19. Jahrhunderts. Das kann im Rahmen eines solch opulenten Kostümschinkens natürlich nur halbherzig rüberkommen. Trotzdem ist „From Hell“ immerhin, der Vorlage entsprechend, die erste wirklich erwachsene Comic-Verfilmung geworden.

„From Hell“. Regie: Allen und Albert Hughes, mit Johnny Depp, Heather Graham u. a., USA 2001, 137 Min.