Ein Hang zur Gewaltsamkeit

„Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen“: 40 Jahre Oberhausener Manifest. War das aufmüpfige Pamphlet von 1962 eine Prä-68er-Aktion? Es juckt einen, die Geschichte des Manifests so zu schreiben, doch es ging nur um staatliche Filmpolitik

„Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen“ Das Oberhausener Manifest eine faschistische Machtergreifung?

von DIETRICH KUHLBRODT

Am 28. Februar 1962 benutzten 26 Kurz- und Dokumentarfilmregisseure die Oberhausener Kurzfestspiele als Bühne, um sich in einer pathetischen Geste für die Produktion von Spielfilmen zuständig zu erklären. Das Bemerkenswerte an diesem Manifest ist, dass es eine unerhörte Resonanz hatte. Mittlerweile ist es deutsche Filmgeschichte. Und wir können das vierzigste Jubiläum feiern.

„Der Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films entzieht einer von uns abgelehnten Geisteshaltung endlich den wirtschaftlichen Boden. Dadurch hat der neue Film die Chance, lebendig zu werden. Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“

Für den deutschen Spielfilm der Adenauerzeit war dies ein klarer Verstoß gegen das Verbandswesen. Nicht Regisseure, die noch dazu grün hinter den Ohren waren, sondern gestandene Produzenten waren für den deutschen Film zuständig. So etwas wie die Nouvelle Vague oder den Autorenfilm nahm man nicht zur Kenntnis. Die deutsche Filmindustrie hatte sich von allem Welschen abgeschottet. Und gegen die Jungen. An so etwas wie den Nachwuchs hatte man nicht gedacht. Aber: Die jungen Leute wollten Filme machen. Einfach: filmen.

War der Affront gegen die „Geisteshaltung“ der Industrie-Nomenklatura überhaupt politisch? War das aufmüpfige Pamphlet von 1962 eine Prä-68er-Aktion? Es juckt einen in den Fingern, die Geschichte des Manifests so zu schreiben. Aber wir müssen dabei stehen bleiben, dass es um Reformen der staatlichen Filmpolitik ging, genauer um die Gründung neuer Institutionen, und zwar um drei. Enno Patalas nannte sie 1962 in der Zeitschrift Filmkritik: eine Stiftung „Junger Deutscher Film“, eine zentrale deutsche Cinemathek und eine Filmakademie.

Der erste Schritt, der dem Manifest folgen sollte, war die Institutionalisierung der Manifestanten im Kampf gegen die Pfründenpolitik der erstarrten Filmwirtschaft – mit Hilfe des Staates. Das erschien im Oberhausener Moment möglich. Denn die Adenauer-Regierung hatte ihrerseits vom wirtschaftlichen Misserfolg der Branche genug. Bundesinnenminister Höcherl klagte in der Illustrierten Quick: „Mit Bedauern muss die Bundesregierung sehen, dass die deutsche Filmwirtschaft sich über die kurze Scheinblüte seichtester Unterhaltung und Schnulzen nicht im Klaren war und dass eine Gesundung auf lange Sicht nur von der filmkünstlerischen Seite insbesondere über die Heranbildung eines hoch qualifizierten Nachwuchses erwartet werden kann. Ich glaube versichern zu können, dass die Bundesregierung bereit wäre, hier zu helfen, wenn von der Filmwirtschaft her wirklich konstruktive Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.“

Die Oberhausener Manifestanten, wohlgemerkt fast alle Münchner, konnten die Kooperation jenes Staates ewarten, den wir in einer Flut von Artikeln in der Filmkritik für den reaktionären Zustand der BRD verantwortlich machten. Die Oberhausener Jungen Arm in Arm mit dem von uns geschmähten CSU-Polizeiminister: Was war das für eine Koalition! Und wenn wir dezidiert pro Oberhausen waren, dann weil wir hofften, dass etwas von der Nouvelle Vague, die es ja schon seit 1958 gab, zu uns schwappen würde. „Das Münchner Projekt […] könnte etwa einen deutschen Schriftsteller anregen, dem Beispiel Pasolinis und Robbe-Grillets zu folgen und sein nächstes Werk, statt auf Papier auf Zelluloid zu realisieren“, imaginierte Patalas. – Verwirklicht wurden tatsächlich die institutionellen Gründungen.

Während der Staat den Münchnern in Oberhausen unter die Arme griff, malte die SPD den Teufel an die Wand. Der schärfste Schuss kam vom Vorwärts. Alexander von Cube witterte im Oberhausener Manifest eine faschistische Machtergreifung: „Der Rekurs auf die ‚verantwortliche Künstlerpersönlichkeit‘ [ist] gegenüber der rauen Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft der beste Weg, diese Wirklichkeit mit Sicherheit zu verfehlen. Der Verdacht, es möchte sich dabei das Unbehagen der jungen Talente an bestimmten Aspekten der Massendemokratie – wie schon einmal – über einen verborgenen ästhetischen zum offenen politischen Faschismus mausern, braucht nicht aus der Luft gegriffen zu werden.“

Nicht nur dem sozialdemokratischen Vorwärts, auch dem Branchenblatt Film-Echo/Filmwoche bot sich in Oberhausen 1962 „hochfahrende Unbedingtheit und ein Hang zur Gewaltsamkeit. […] Das Resümee der Pressekonferenz war keinesfalls positiv für die junge Garde.“ – Was für eine neue Koalition! Oder: Die Fronten waren in Bewegung gekommen. Es scheint, dass die Manifestanten eher einen Generationskonflikt ausgelöst hatten. „Oberhausen […] sollte sich weigern, den Tummelplatz für Leute abzugeben, deren Aktionen meist nur aus ebenso anmaßenden wie taktlosen Auftritten bestehen und deren Jugendlichkeit dafür allenfalls eine Erklärung, aber keine Entschuldigung ist“, so die Aachener Volkszeitung.

„Leider war die Antrittspressekonferenz der jungen Filmleute in Oberhausen lässig vorbereitet; die jungen Herren waren sich offenbar untereinander nicht einig, was sie nun eigentlich sagen wollten. Sie zeigten kein Konzept vor. Es muss sich erst zeigen, ob sie nicht nur Haarschnitt und Habitus mit ihren französischen Kollegen gemeinsam haben“ – das schrieb Klaus Hebecker in der Stuttgarter Zeitung. Wir können uns vorstellen, dass die Aktion der Münchner in der Ruhrgebietsstadt nicht willkommen war. Hebecker hatte in diesem Jahr 1962 dort in der Internationalen Jury amtiert, die im Abschlussprotokoll die „jüngeren Filmschöpfer“ des deutschen Kurzfilmprogramms gerügt hatte: „Befremdend blieb es, dass die Texte auch der jüngeren Filmschöpfer hochgestochen verkrampft wirkten.“

„Wollen unsere jungen Freunde wirklich die Retter aus schlimmer Stunde sein?“, zweifelten die filmblätter, für die sich dasManifest „doch etwas billig und spekulativ“ las. Die Branche haben die Münchner Oberhausener dann tatsächlich nicht gerettet. Die Altwirtschaft versuchte, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Eigene Ideen – außer einem Mehr aus den Subventionstöpfen – hatte sie nicht. Es blieb, die Strategie zu kopieren, die die Oberhausener Rebellen 24 Stunden vor dem großen Auftritt des 28. Februar aus dem Stand entwickelt hatten. Auch sie wollten Knete vom Staat. Fünf Millionen. Aber die sollten rationell eingesetzt werden. Für dieses Geld hatten sich die jungen Reformer anheischig gemacht, zehn Spielfilme zu drehen. Das war etwas für Herrn Höcherl. Denn diese Investition hätte der Seniorenbranche nur für drei Produktionen gereicht – oder um für zehn Filme lediglich die Stargagen zu zahlen. Das Oberhausener Wirtschaftskonzept sah vor, das Risiko des einzelnen Films zu minimieren. Wenn nur einer der zehn Filme erfolgreich sein würde und drei so lala durch die Kinos kämen, könnten sechs Flops durchgezogen werden. Schon im März 1962 stellte der Berliner Altproduzent Artur Brauner dann in Spandau seine eigene Rettungsstrategie vor: die „riskante Welle“. Für nur 350.000 Mark statt der bis dahin üblichen 1,2 Millionen wollte er jährlich drei Filme produzieren, bei denen auch Jungautoren und Jungregisseure eingebunden werden sollten.

Doch unseren Manifest-Pathetikern war das zu spekulativ und billig. Und was unternahmen die bedrohten Altstars O. W. Fischer, Maria Schell pp.? Sie gründeten eine „Starallianz“, um deutsche Klassiker groß zu verfilmen.

Also blieben die Münchner Oberhausener unter sich. Sie etablierten in den folgenden Jahren den Jungen Deutschen Film: einen Mantel diverser politischer und ästhetischer Ausrichtungen. 1966 entstanden Kluges „Abschied von gestern“ und Schlöndorffs „Der junge Törless“, aber auch Ulrich Schamonis „Es“, das den Ton für eine Reihe pseudoengagierter Filme mit hohem Wiedererkennungseffekt angab. Ende der Sechziger war dann mit Herzogs „Lebenszeichen“ ein künstlerischer Level erreicht, auf dem der deutsche Film aufbauen konnte. Das allererste Lebenszeichen war das Oberhausener Manifest gewesen.