Der kranke Kopf, der lästige Leib

Kälte kriecht langsam nach oben: Christa Wolf las in der Alten Pfarrkirche in Pankow aus ihrer neuen Erzählung

Vor der alten Pfarrkirche in Pankow hat sich eine riesige Meschentraube gebildet, hunderte von Leuten finden nur schleppend Einlass. Die noch keine Karte haben, werden wohl umsonst gekommen sein. Die Stimmung ist aggressiv, ein schmallippiger alter Mann lässt keinen durch, rammt denen den Ellbogen in die Magengrube, die schneller durchwollen, „Presse, von wegen Presse, das kann ja jeder behaupten“, keift er, ganz der Kleinbürger, aber pressen, das kann er einfach schlechter. Diese Altstalinisten, diese Altstasiisten.

Das karge protestantische Gotteshaus „Zu den vier Evangelisten“, so abgewetzt wie ein stark frequentierter Nutzraum, ist ein guter Ort für diesen Event, und da sitzt sie auch schon, gleich neben Wolfgang Thierse, gleich hinter Volker Braun: Christa Wolf, die zum ersten Mal ihre gerade erschienene Erzählung „Leibhaftig“ vorstellen wird.

Es sind an diesem Abend fast 800 Besucher, Durchschnittsalter um die fünfzig, häufigstes Alter zwischen sechzig und siebzig, die sich auf die harten Kirchenbänke reihen. Kaum jemand scheint hier zu sein, der Christa Wolf auch heute noch in Seminaren über weibliche Schreibweisen liest. Auch die sind nicht da, die Christa Wolf in den Achtzigerjahren auf der Suche nach Alternativen lasen, nach einem vernünftigeren Umgang mit den natürlichen Ressourcen und mehr Platz fürs Individuum in einer aufgeklärten, technokratischen Welt, in der man sich weder im Osten noch im Westen noch so richtig wohl fühlen wollte. Es scheinen vor allem diejenigen Leser Christa Wolfs gekommen zu sein, die in die DDR hineingeboren wurden, für die Wolfs Literatur seit den Sechzigerjahren eine Ersatzöffentlichkeit darstellte und die in ihr eine Identifikationsfigur sahen, umso mehr, seitdem die Schriftstellerin Anfang der Neunziger im westdeutschen Feuilleton unter Beschuss geriet, als sie zugab, von 1959 bis 1962 informelle Mitarbeiterin bei der Staatssicherheit gewesen zu sein.

„Es ist ein wenig beklemmend“, eröffnet Christa Wolf ihre Lesung, „zum ersten Mal aus einem neuen Text vor großer Menge zu lesen“. Eine große Performerin ist die inzwischen 72-Jährige nicht, ist sie aber auch nie gewesen. Wie sie aus ihrer Erzählung um eine namenlose Protagonistin, liest, das hat beinahe etwas Unambitioniertes, andererseits ist es angenehm, dass einer der letzten großen Stars der alten Garde so wenig Lust zur Selbstdarstellung hat.

Es ist schon zentnerschwer, was Christa Wolf da liest. Eine namenlose Ich-Erzählerin, von der hin und wieder auch in der dritten Person die Rede ist, muss wegen eines Blinddarmdurchbruchs mehrfach operiert werden – ebenso übrigens wie Christa Wolf selbst, die 1988 in einem Schweriner Krankenhaus fünfmal unters Messer musste. Während sich die Ärzte keinen Reim auf den Zusammenbruch ihrer Patientin machen können, denkt diese in fiebrigen Träumen über ihre Vergangenheit, zum Beispiel über die Freundschaft zu einem Kulturfunktionär nach, der die Wende im Unterschied zu ihr nicht überleben wird.

Während Christa Wolf von Eiter, Kontrastflüssigkeiten, Schnabeltassen und Schläuchen im Bauch liest, steigt den Zuhörern die Kälte des Steinfußbodens der Kirche langsam von den Füßen immer weiter nach oben. Hypochonder dürften es nicht leicht haben in dieser sakralen Stimmung. Die schönsten Momente des Abends stellen sich eigentlich dann ein, wenn Christa Wolf Körperliches und Seelisches entflicht, wenn es in ihrer Erzählung ganz unmetaphorisch zugeht, wenn die Ich-Erzählerin Distanz zu sich schafft und ihren Körper in einer Sachlichkeit beschreibt, die keine Rückschlüsse zulässt – so, als gehöre er nicht zu ihr, dieser unberechenbare, irgendwie lästige Leib. Einmal, gegen Ende der Lesung, bricht sogar Gelächter aus, als sie liest, wie man sie auf den Operationstisch hebt: „So, sagte der Pfleger: Wollen wir sie mal rüberwuchten.“ SUSANNE MESSMER