einsatz in manhattan
: Fortschreitende Abschottung: Verständigungsblockaden in und mit Amerika

One Nation, One Book

Wenn auch nicht von strategisch positionierten Panzern, so ging ich doch von patrouillierenden Soldaten der National Guard am Hauptbahnhof aus, zumindest aber von auf- und abmarschierenden marines vor dem Kapitol, der Library of Congress oder dem Washington Monument. Nichts von alledem. Vergangenen Sonntag gab sich Amerikas Hauptstadt Washington, D.C. bei strahlendem Sonnenschein unvermutet bürgernah. Eine Joggerin rannte die vielen Marmortreppen des Supreme Court hoch und runter, direkt vor dem Weißen Haus drehte man eine TV-Serie, die Flugzeuge vom sehr nahe gelegenen Ronald Reagan National Airport flogen wieder im Tiefflug über Washington hinweg, und auf dem Rasen zwischen Kongressgebäude und dem für ferngesteuerte Boote zweckentfremdeten Edelteich tummelten sich Familien aller Länder zum Picknick sowie Liebende zum Knutschen auf Wolldecken.

Im Kopf geriet das Hauptstadtensemble fast zum bunten Werbestreifen für ein „kinder, gentler America“, wie es Bush Senior als Präsident schon in den späten Achtzigern gefordert hatte. Fast. Denn ebenso wenig wie die Bilder vom 11. September gehen einem jene der Gefangenen von Camp X-Ray auf Kuba aus dem Sinn. Hinzu kommt die Schwierigkeit, sich offen mit vielen amerikanischen Bekannten über die internationale Politik ihres Landes auszutauschen, wenn die Diskussion nicht im Streit enden soll. Auf beiden Seiten ist man vorsichtiger geworden. In Washington traf ich einen engen Freund, staff reporter im Hauptstadtbüro des Wall Street Journal. Politisch sieht er sich links der Demokraten, wehrt aber jegliche Kritik an seinem Land mit dem Hinweis ab, wie bequem die Situation für die Europäer sei, die sich nur so lange ihren moralisierenden Fingerzeig leisten könnten, bis Saddam Hussein mit seinen Bomben Paris und Berlin bedroht. Und dann würde wieder wie bei allen Krisen nach den USA geschrien.

Aber versteht er denn nicht, dass der Rest der Welt ohnehin schon die Übermacht der USA fürchtet? Die Schweiz muss ja auch nicht jeden Tag verlautbaren, dass sie die reichste Nation der Welt ist. Dient die Worthülsenrhethorik des US-Präsidenten, die das furchtbare Attentat vom 11. September instrumentalisiert, nicht einer ganz anderen Agenda als der vordergründig proklamierten? Schulterzucken, Unverständnis. Die Nacht zuvor hat der Freund noch bis um sechs Uhr in der Früh getrunken – die Nachricht vom grausamen Tod des entführten Wall-Street-Journal-Reporters Daniel Pearl durch pakistanische Fundamentalisten traf dessen Arbeitskollegen besonders hart. Mit Pearl starb der zehnte Journalist seit Beginn des Krieges in Afghanistan, im Vergleich zu einem einzigen US-Soldaten, der bisher durch feindliches Feuer umkam. In ihrem Rundbrief an Freunde ruft Pearls hochschwangere Witwe dazu auf, die Gründe des Terrorismus zu hinterfragen, dabei den eigenen Lebensstil, das eigene Land nicht zu vergessen.

Auf seiner Asienreise hat George W. Bush kürzlich Nordkoreas Status als Land auf der Achse des Bösen auch mit folgendem Satz gerechtfertigt: „Ich mache mir um ein Regime Sorgen, dass sich nach außen hin abschottet und nicht transparent ist.“ Zu Hause weigert sich Vizepräsident Dick Cheney beharrlich, die Berater des Energieplans der US-Regierung zu nennen, bei denen viele davon ausgehen, dass es sich hierbei um jene Firmenbosse aus der Ölindustrie handelt, die Bush & Co. mit Abermillionen zum immer noch hoch umstrittenen Wahlsieg verholfen haben. Genausowenig gibt es Äußerungen zu den Kriegsgefangenen; die Namen der etwa 1.000 nach dem 11. September über Monate internierten Personen sind bis heute unbekannt, und das neu begründete Office Of Strategic Influence soll US-Propaganda in die ganze Welt hinausplärren. Im Rahmen der nationalen Sicherheit wird der Freedom Of Information Act so kontinuierlich beschnitten wie die Zivilrechte; Beamte werden gebeten, zuvor allgemein zugängliches Material zu zerstören.

Wird seitens der Regierung geblockt und gemauert, so wird vom Bürger mehr Transparenz denn je eingefordert. In der alternativen New Yorker Wochenzeitung Village Voice wies Nat Henthoff kürzlich darauf hin, dass das FBI unter Justizminister John Ashcroft aufgrund des hastig im letzten Oktober zusammengeschnürten USA Patriot Act auf der Suche nach verdächtigen Personen das Recht erhielt, von Bibliotheken und Buchhändlern Auskunft über das Leih- beziehungsweise Kaufverhalten einzelner Kunden zu erhalten. Verfügt ein Spezialgericht über den Zugriff, haben Bibliothekare wie Buchhändler weder das Recht, dagegen zu klagen, noch öffentlich bekannt zu geben, dass von ihnen Unterlagen angefordert wurden.

In New York löst sich das Problem vielleicht von ganz allein. Bürgermeister Michael Bloomberg sieht in seinem Sparpaket für 2003 eine drastische Mittelkürzung von 39 Millionen Dollar für die Bibliotheken vor, was im schlimmsten Fall zur Schließung einiger Leihbüchereien in den weniger wohlhabenden Gegenden führen könnte. Und im Mai will ein Komitee belesener New Yorker einen Roman vorstellen, der Millionen von Stadtbewohnern zur kollektiven Lesegemeinschaft hinter einem Buch vereinen soll – so wie das letztes Jahr erfolgreich in einer anderen Metropole mit „One Book, One Chicago“ über die Bühne ging. Aber schon jetzt hat man sich über die Auswahl zerstritten – weil man mit dem schließlichen Favoriten keine Ethnie verletzen oder übervorteilen will. So lange die Literaturwelt ihre Grabenkriege ausschließlich an der PC-Front führt, könnte Ashcroft getrost seine Finger von der lesenden Bevölkerung lassen.

THOMAS GIRST