Ballade von der Ungehörigkeit

Eine Gesellschaft der Freien gründen: Davon träumen der Intendant in Weimar und die Kulturbürger der Stadt. Gegen die Macht von Gewerkschaften und Landesherren soll das Deutsche Nationaltheater sich stemmen. Ein Modellfall für ganz Deutschland könnte es werden – wenn es denn klappt

Wenn nicht die Fixkosten wären!Und ein Personal mit Alterssitzfleisch

von FRITZ VON KLINGGRÄFF

Baal ist in Weimar. Der unmäßige Herr Baal. Einer, der sich wichtig nimmt und dann bekommt, was ihm zusteht. Herr Baal, findet sein Regisseur Thomas Thieme, ist „die vollständige Unberechenbarkeit“.

Die Premiere von „Baal“ ist zwar erst am 14. Dezember, aber Weimar scheint schon mal proben zu wollen, was es mit dem Baal wohl auf sich hat. Weimar will jetzt selbst eigensinning sein. Und ich-süchtig. „Lasst mich den Baal spielen!“, hat die kleine Stadt am Flüsschen Ilm in der vergangenen Woche gerufen. Die ganze deutsche Theaterwelt horchte auf: War da was? Dagmar Schipanski, Kunstministerin von Thüringen, übernimmt die Rolle der bösen Landesstiefmutter und findet das Ganze ganz und gar ungehörig: „Der Weimarer Stadtrat hat den in monatelanger, mühseliger Kleinarbeit … errungenen Grundsatzbeschluss zur Gründung einer Theatergemeinschaft zwischen dem Deutschen Nationaltheater Weimar und dem Theater Erfurt kurzerhand abgelehnt und ist beinahe geschlossen zu einer unausgegorenen Ideenskizze übergelaufen“, lautet das in ihrer lutherischen Diktion.

Die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst in einer CDU-Landesregierung ist nämlich mit einem ihrer wichtigsten Projekte für diese Wahlperiode gescheitert: mit der Neustrukturierung der Thüringer Theaterlandschaft und der Kofinanzierung ihres Erfurter Opernneubaus durch Weimar. Mitte vergangener Woche entschied der Stadtrat von Weimar, sein Deutsches Nationaltheater in die Freiheit zu entlassen, seine Schauspieler und Musiker nicht in die eheähnliche Gemeinschaft mit dem Erfurter Provinztheater zu schicken, seine geliebte Staatskapelle nicht durch ein B-Orchester zu verwässern: Sich stolz und selbstherrlich dem künftigen Staatstheater für Mittelthüringen zu verweigern – selbst wenn, wie es inzwischen auch beschlossene Sache ist, die Landeshauptstadt Erfurt ganz ohne Musiktheater dasteht. Und man ging in Weimar, dem Schweizer Generalintendanten Stephan Märki zuliebe, gleich noch einen Schritt weiter. Deutsches Nationaltheater, so war die einstimmige Botschaft der 37 Stadträte zu Weimar: Deutsches Nationaltheater in Weimar, hier ist dein Erbe, jährlich 21 Millionen Euro bis zum Jahre 2008, gründe du damit eine Gesellschaft der Freien, dir zum Ruhm und uns zur Ehre. So feierlich war das wirklich.

Das Deutsche Nationaltheater mit seinen 400 Technikern, Bühnenbildnern, Sängern, Oboisten und Schauspielern ist seitdem auf dem Weg vom öffentlich-rechtlichen Stadttheater in eine selbstverantwortliche Gesellschaft. Mit beschränkter Haftung natürlich. Und ganz Deutschland träumt in seinen Feuilletons ein Weimarer „Wintermärchen“. Träume von einem Modell für Deutschland, vom chirurgischen Eingriff in das „Krebsgeschwür“ Tarifpolitik, vom privatrechtlichen Theater mit Haustarif und flexiblen Arbeitszeiten. Diktiert wurde das hochtönende Märchen vom FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier noch vor dem Abend der Stadtratsentscheidung: „Ein Traum, geboren aus Not, ein Modell für die Republik“ und möglicherweise eine „kleine Revolution“.

Ganz Weimar träumt mit. Doch wie das so ist in einer kleinen Stadt mit großer Vergangenheit, könnten die Träume unterschiedlicher nicht sein. Da gibt es zum Beispiel den neuen, ehrgeizigen Generalintendanten Stephan Märki. Seit zwei Jahren leitet er dieses Stadttheater und träumt davon, loslegen zu können. Ein Deutsches Nationaltheater hat Symbolwert, man könnte also was Großes draus machen und Anerkennung hat es für seinen Thieme-„Faust“ ja auch schon. Wenn da nicht die unsäglichen Fixkosten wären, ein Personal mit Alterssitzfleisch, Techniker, die nach Stechuhr arbeiten, und vor allem der „Automatismus der Tarifsteigerungen“ bei gleich bleibenden Zuschüssen: eben das Krebsgeschwür. Stephan Märki also träumt das Wintermärchen von seiner flexiblen Theater-GmbH.

Einen anderen Traum pflegen die Weimarer Kulturbürger. So nennen sich ein führender Hotelier, ein frühberenteter Hochtief-Manager, ein lokaler Medienzar und ein westdeutscher Architekt. Sie träumen vom goldenen Zeitalter, von Hochkultur mit Event-Charakter, schön wie im europäischen Kulturstadtjahr 99. Dafür werden sie auch mal laut, revolutionär und chauvinistisch. Vor großem Publikum schwärmen sie dann von ihren Weimarer „Künstlern, die hier über Jahrhunderte gewachsen sind“, schimpfen auf die „Mogelpackung“ der thüringischen Landesregierung und können sich mit Erfurt sowieso nur eine einzige Fusion vorstellen: „Unter der Leitung des DNT-Weimar, ganz so, wie das die Historie vorgesehen hat.“ Diese Kulturbürger Weimars repräsentieren den Traum einer ganzen Stadt, die ökonomisch nur eine Chance für sich sieht. Sie muss Thüringens Kulturleuchtturm bleiben: Mit klassizistischen Altersruhesitzen für gut betuchte Hochtief-Rentner, für die Technologieelite aus Jena und die Verwaltungsspitzen aus Erfurt. Mit einer internationalen Schule und Wochenendtourismus. Weimar, das ist „die gehobene Wohnidee“, und es ist kein Zufall, dass die Buchkaufleute von Dussmann – im Nebengeschäft Betreiber von Altersheimen „im Zeichen des Gingko“ – zu den Sponsoren des Weimarer Theaters gehören.

So ist das also mit dem Träumen in Weimar, das wissen auch seine 37 Stadträte mit Mittelstandsphysiognomie. Sie hatten einen realen Albtraum; eine rote Banderole im Großen Haus am Theaterplatz fragte: „Verrät der Stadtrat die Stadt Weimar?!“ Das geschah einen Tag vor der entscheidenden Stadtratssitzung – und natürlich verriet er sie nicht, sondern setzte sich an die Spitze der Bewegung. Beklatscht und gefeiert aber weist er alle weitere Verantwortung von sich: „Wir haben dem Theater den Auftrag erteilt, eine gemeinnützige GmbH zu gründen. Jetzt müssen sie ihren Weg allein gehen.“ Mehr Geld gibt es dafür auch nicht: „Nicht einen Pfennig.“

Schon ist man in sowas wie eine klitzekleine Revolution geschliddert – aber war das nicht schon immer so mit den deutschen Kulturbürgern? Während Deutschland auf Weimar guckt, beginnt der tapfere Schweizer Generalintendant jetzt mit seinen Verhandlungen im eigenen Haus. Sein Angebot: Festschreibung der Löhne bis 2008, Entlassung von 40 der 400 Mitarbeitern, das Versprechen von viel Enthusiasmus und einer gerechteren Verteilung von Arbeit und Lohn. Das Drohpotenzial steckt in den nur auf Eis gelegten Fusionsplänen: eine zerschlagene Staatskapelle, 150 betriebsbedingte Entlassungen und das schmachvolle Ende eines Weimarer Wintermärchens. Einstimmig stand die Belegschaft da hinter ihrem Intendanten; gestern wurde eifrig mit Promis wie Antje Volmer oder Richard von Weizsäcker diskutiert.

Am liebsten würde Märki jetzt die Verhandlung mit jedem Einzelnen seiner Mitarbeiter aufnehmen. Doch während die schlecht bezahlten Schauspieler begeistert sind, zeigt man sich im Orchester etwas zurückhaltender. Denn hier ist man traditionell gut organisiert und so steht die Gewerkschaft – die Deutsche Orchestervereinigung – denn auch schon Gewehr bei Fuß. Mit Grausen beobachtet nun Rolf Bolwien, Chef des Deutschen Bühnenvereins, dass ein kleines Theater in Weimar unter den Augen der deutschen Theaterwelt „mit den Tarifprofis“ von der Orchestergewerkschaft allein verhandelt. Als alter Vergesellschaftungshaudegen weiß er schon jetzt: „Aus der Sache wird nichts.“ Wie sagte doch Brecht: „Die Lebenskunst Baals teilt das Geschick aller andern Künste im Kapitalismus: sie wird befehdet. Er ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft.“