„Auge um Auge“: Kein theologischer Streit um Worte aus dem Alten Testament, sondern ein Kampf um politisch instrumentalisierte Stereotype
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Rabbiner Bollags oben abgedruckte Interpretation der Bibelstelle 2 Mose 21, 22–25, die bei Martin Luther mit „Auge um Auge, Zahn um Zahn … Beule um Beule“ übersetzt ist, betrifft nicht nur einen theologischen, sondern einen aktuellen politischen Zusammenhang. Theologisch gesehen stellt Bollag die Textstelle in den Zusammenhang der Thora wie in den der jüdischen Auslegungstradition. Er kommt damit zu dem gleichen Ergebnis wie viele christliche Gelehrte.

Aber die Wissenschaft hat, wie wir wissen, oft wenig zu tun mit dem Handwerk derer, die nach griffigen Formeln suchen. „Auge um Auge“ fungiert nach wie vor in der Publizistik als Chiffre für das in der Thora angeblich festgelegte Prinzip der „alttestamentarischen Rache“. Dieses Prinzip soll auch die Grundlage abgeben für Vergeltungsaktionen der Regierung Ariel Scharons gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Wenn das so ist, suggeriert der Subtext, wenn Rache das Handeln der Israelis bestimmt, dann ist eigentlich jeder Verhandlungsfrieden zum Scheitern verurteilt, da die Rachespirale Kompromisse zunichte macht. Also überlassen wir die Rachsüchtigen besser ihrem Schicksal.

Beispielhaft für die stereotype Verwendung der Formel „Auge um Auge“ ist der in der Frankfurter Sonntagszeitung vom 9. November 2001 abgedruckte Artikel des türkischen Nationalökonomen Yahya Sezai Tezel, für den Jehova, in der erwähnten Moses-Stelle, als Gott der Rache auftritt. Tezels unter dem Titel „Das Problem heißt Israel“ veröffentlichter Text war Bestandteil eines acht Artikel umfassenden Schwerpunkts der Sonntagszeitung. Dieser löste starken Unmut aus, der sich unter anderem in einem von bislang 1.240 Personen unterzeichneten Protestbrief ausdrückte.

Gerade bei der Debatte um die Politik Scharons ist es notwendig, sich strikt an die Fakten zu halten und der – auch historischen – Komplexität des Verhältnisses von israelischen Juden und Palästinensern gerecht zu werden. Nichts ist deshalb abträglicher als der Rekurs auf Stereotype, die gerade deswegen tief verwurzelt sind, weil sie ihre Ursprünge im christlichen Judenhass haben.

„Auge um Auge“ ist nicht unmittelbar als Fehlübersetzung und antijüdisches Stereotyp zu erkennen. Intuitiv wird „Auge um Auge“ nicht als Talions-, also Wiedergutmachungsprinzip verstanden, als berechtigte Forderung nach Schadensersatz und Wiedergutmachung, sondern wird im Gegenteil dem Rechtsstaatsprinzip entgegengestellt. Gerade unter deutschen Bedingungen erscheint eine solche Sicht als Projektion. Man bürdet die eigenen verbrecherischen Wünsche (zum Beispiel gegenüber den ausländischen „Mitbürgern“) den Juden auf.

Bekanntlich hat sich keine christlich bestimmte Gesellschaft je an die ethischen Standards der Bergpredigt gehalten. Dennoch wurde in der christlichen Tradition dem „Auge um Auge“ immer die berühmte Stelle Mt. 5, 38 f. entgegengehalten, in der es, auf „Auge um Auge“ Bezug nehmend, heißt: „Ich (Jesus) aber sage euch, leistet dem Bösen keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.“

Liegt hier wirklich die Gegenposition zu dem „alttestamentarischen Gebot der Rache“ vor? Eine sorgfältige Lektüre zeigt uns jedoch, dass es hier nicht um eine Abgrenzung von Rache geht. Vielmehr will Matthäus/Jesus noch über das Talionsgebot hinausgehen. Der Geschädigte soll, dem Gebot der Feindesliebe folgend, auch auf Wiedergutmachung verzichten. Aufforderungen zur Feindesliebe finden sich aber nicht nur im Neuen, sondern auch im angeblich von Rachegedanken beherschten Alten Testament. Die stereotype Interpretation von „Auge um Auge“ blendet sie aus.

Schon vor der Naziherschaft haben die deutschen (jüdischen) Gelehrten Martin Buber und Franz Rosenzweig bei der Übersetzung von „Auge um Auge“ den Argumenten Rechnung getragen, die Rabbi Bollag versammelt hat. Bei Buber/Rosenzweig heißt es: „Geschieht das Ärgste aber, dann gib Lebensersatz für Leben … Striemenersatz für Strieme.“ Damit ist klar der von Bollag dargelegten jüdischen Rechtstradition Genüge getan und mit dem Begriff „Ersatz“ das Prinzip der Rache ausgeschlossen.

Dabei befinden wir uns hier nicht auf dem Terrain der Wortglauberei im Sinne der political correctness. Den Stereotypen folgen Taten, auch wenn die, die sie verbreiten, das nicht beabsichtigen. „Auge um Auge macht die Welt blind“: Dieser an Mahatma Gandhi angelehnte Ruf der Friedensbewegung wendet sich zu Recht gegen die Gewaltspirale. Aber auf die griffige alttestamentarische Formel sollte er verzichten. CHRISTIAN SEMLER