Der zivilisatorische Fortschritt in Theorie und Praxis

Insolvenz ist besser

Die Berliner-Ökonomie-Kolumne begann 1997 mit einem Text über den Kreuzberger Kurzzeit-Hausbesetzer, Langzeit-Jurastudenten und Baseball-Spieler bei den „Ammerland Judges“, Lüko Becker aus Westerstede. Darin wurde wahrheitsgemäß berichtet, wie er dann doch endlich Rechtsanwalt wurde. Gleich anschließend eröffnete er eine Praxis in der Oranienstraße – in den Räumen der Galerie „Endart“ –, wobei er sich juristisch auf Kunst- und Sport-Kalamitäten kaprizierte.

Damit wurde es dann aber langsam Ernst. Schon bald mietete er einen eigenen Gewerberaum im Haus gegenüber an und beschäftigte manchmal eine Sekretärin.

Jetzt hat er sich sogar in Tegel in der Berliner Straße 6 niedergelassen: beim Verein für Solvenzsicherung und Wirtschaftshilfe in Deutschland, mit dem er einen gemeinsamen Dienstleistungspool unterhält. Außerdem hat er umdisponiert – und sich auf Insolvenz- sowie Baurecht konzentriert.

Zum einen weil langsam Schluss ist mit lustig und selbst all die Arbeitslosen, die sich irgendwann selbstständig gemacht haben, großenteils pleite, überschuldet und wieder abgetaucht sind – das gilt besonders in Berlin (weswegen hier dann auch noch eine gewisse „Unternehmensberatung“ jedesmal dazu kommt).

Zum anderen hat die Bundesregierung, um den sozialen Unfrieden – besonders im Osten – wenigstens etwas zu entschärfen, das von der SPD bereits in den Siebzigerjahren entworfene neue Insolvenzrecht 1999 endlich in Kraft gesetzt. Danach hat man die lästigen Gläubiger nicht mehr volle 30 Jahre am Hacken, aber auch nicht wie in den USA nur drei Jahre – dann wird einem dort bereits ein „fresh start“ ermöglicht. Hier bekommt der „redliche Schuldner“ jetzt nach sechs Jahren eine „neue Chance“ – mit einer „Restschuldbefreiung“ und nachdem er einen ordentlichen Insolvenzantrag gestellt hat.

Bei Lüko in Tegel kann man sich entscheiden, ob man sich deswegen an ihn als Anwalt oder an die Schuldnerberatung „Solventa Solidar“ gleich nebenan wendet. Wobei ein „redlicher Schuldner“ derzeit so beschaffen sein muss, dass er alle seine Monatseinkünfte über der Pfändungsgrenze – von 940 Euro bei Alleinlebenden – brav zur Schuldentilgung abzuführen bereit ist.

Mir wollte zum Beispiel das Finanzamt gerade das Honorar für diese Kolumne pfänden – es liegt jedoch mit 55 Cent pro Zeile deutlich darunter. Dennoch überlegte ich kurz, ob ich als Sozialhilfeempfänger nicht fürderhin besser dastehen würde, zumal mich kürzlich auch noch die Künstlersozialversicherung rausgekämmt hatte.

Die meisten Klienten von Lüko Becker sind jedoch kleine Bauunternehmer, Kneipenbesitzer, Ärzte und, überraschenderweise, Beamte. Letztere hatten sich zum Beispiel mit Scheidungskosten und Unterhaltszahlungen für die Kinder verkalkuliert, dann einen privaten Beamtenkredit-Vermittler eingeschaltet und daraufhin noch eine Eigentumswohnung an den Hals gehängt bekommen.

Bei Bechstein und Holzmann sprang sofort der Staat an und ein, sie riskieren jedoch bei einer allzu großen Unordnung in ihren privaten Verhältnissen auch noch die berufliche Abwicklung. Da wird einem selbst die freiwilligste Redlichkeit aufgezwungen! Wobei eine Familie mit zwei Kindern immerhin etwa 2.400 Euro weiterhin für sich beanspruchen darf. Sodass in einem „Verbraucherinsolvenz-Verfahren“, bei dem es um einen Autokauf in Wert von 50.000 Euro geht, eine Monatsrate von rund 150 Euro zumutbar wäre.

Bei weniger als 19 Gläubigern greift neuerdings ein außergerichtliches Verfahren. „Wenn man es richtig anfängt, dann sehen die Gläubiger am Ende nur etwa 1 % ihrer Forderungen, beim Konkurs sind über 14 % Spitzenwerte“. Da umgekehrt bei anhaltender Verstocktheit ein Vollstreckungstitel nach wie vor 30 Jahre hält, ist es immer besser, ein Insolvenzverfahren einzuleiten. Mit dem Antrag kann man dann zu den Gläubigern gehen und, wenn es sich um Banken handelt, zum Beispiel den Kredit neu verhandeln. Dabei kommt einem derzeit in Berlin und Brandenburg der Umstand entgegen, dass hier so viele Kneipen Pleite gegangen sind, dass die Banken alles tun, damit der Kreditnehmer ihnen nicht den Laden vor die Füße schmeißt. Ein proletarisch-herbes Verhandlungsgeschick hat sich hierbei ironischerweise besonders bewährt.

Viele Firmen sanieren sich bereits mit der Insolvenz, das heißt, sie stellen einen Antrag, bevor die ersten Gläubiger nur noch gegen Barzahlung liefern, dann anfangen, Titel vollstrecken und Konten pfänden zu lassen und schließlich den Schuldner per Haftbefehl zur Abgabe eines Offenbarungseids zwingen.

„Das neue Insolvenz-Verfahren ist eindeutig zugunsten der Schuldner“, meint der Anwalt Lülo Becker, der auf der anderen Seite jedoch darüber klagt, dass alle Gerichte anders entscheiden. Potsdam sei geradezu unberechenbar, und dass darüberhinaus auch das Gesetz laufend verändert wird: „Die Praxis erweist sich da“, sagt Lüko Becker, „als sehr widerborstig.“ Aber so wollen wir sie ja auch am liebsten haben. HELMUT HÖGE