Ennui im Whitney

Alle zwei Jahre präsentiert das New Yorker Whitney Museum seine Biennale amerikanischer Kunst. Einzelne Künstler triumphieren, der Rest verliert sich in einer weltweit gepflegten All-inclusive-ness

von THOMAS GIRST

Nun also die Whitney-Biennale. Dank exklusivem Kultursponsoring von Philip Morris Companies, Inc., ist sie mit den 113 auf drei Stockwerken vertretenen Künstlern die größte ihrer Art seit 1981. Auf dem Katalog der letzten Donnerstag eröffneten Ausstellung prangt eine CD-ROM mit „Soundworks“ von 13 Audiokünstlern. Des Weiteren steht Malerei auf dem Programm, Fotografie, Video, Skulptur, Zeichnung, Performance, Internetkunst, Symposien, Künstlervorträge – und erstmals auch Architektur. Im benachbarten Central Park stößt man auf einen Baum aus rostfreiem Stahl von Roxy Paine, auf Bronzevögel mit Menschengesichtern von Kiki Smith oder unvermutetes Geplätscher in der Mitte eines Teichs, das Brian Tolle installiert hat.

Global betrachtet ist die New Yorker Whitney-Biennale dieses Jahr eine von fast zwanzig. Denn Biennale schallt’s aus allen Ländern, von der International Painting Biennial in Cuenca, Ecuador, bis zu Dänemarks Kulturbro – und die diesjährige Documenta verschlug es bereits nach Berlin, Neu-Delhi, die West Indies sowie nun nach Lagos, bevor sie im Juni in Kassel eröffnet. Die Kuratoren mit Superstarstatus düsen Goodwill-Botschaftern der UNO gleich in der Business-Class herum; was sie aber an politischer Kunst in die Museen zurücktragen, verliert sich in den Räumen institutionalisierter Kunstbetrachtung. Natürlich, Aufsehen wird erregt und für das Richtige plädiert. Trotzdem bleiben die meist von großen Firmen gesponserten Events so unbeholfen inkonsequent wie das Hochheben Not leidender Kinder durch Supermodels, die für fünf Minuten in ein Krisengebiet eingeflogen wurden. Die meisten Menschen aber müssen weltweit bleiben, wo sie sind – oder wären froh, wenn sie es dürften.

Zudem wird man in letzter Zeit den Verdacht nicht los, dass sich auch deshalb allzu viele Künstler auf das Herunterbeten so radikalpolitischer wie hinlänglich bekannter Positionen beschränken, weil sie mangels Talent und aus technischem Unvermögen ihren ureigenen Antrieb nie umzusetzen gelernt haben. Hinzukommt, dass Künstler mittlerweile über ihre Werke zu reden gelernt haben wie Dozenten der Kunstgeschichte in Proseminaren. Die Kunstwelt wird damit perfekt bedient, man spricht schließlich dasselbe Vokabular.

Vieles von dem trifft zwangsläufig auch auf die Whitney-Biennale zu, wobei sie seit je das Glück hat, sich bei ihrer Auswahl lediglich auf die USA und die dort arbeitenden Künstler beschränken zu müssen. Anders als noch bei der Biennale vor zwei Jahren wirken die Werke weit weniger wie im Hobbyraum zusammengebastelt. Alles scheint glänzender, glatter, anspruchsvoller und erfahrener. Obwohl sich die Kuratoren in ihrem Hang, alles zeigen zu wollen, wenig bemüht haben, Übersicht zu schaffen. Das bringt den gerade für eine Gruppenschau nachteiligen Effekt mit sich, dass die einzelnen Werke sehr viel stärker bleiben als die Summe aller Exponate.

Selbstverständlich gibt es auch hier außerordentlich bemerkenswerte Künstler. Zunächst ist da Forcefield, eine junge Künstlergruppe aus Rhode Island, die mit ihrem Beitrag den unheimlichsten jemals in einem Museum gastierenden Raum geschaffen haben. Gespenstischer noch als Disneyland bei Einbruch der Dunkelheit oder das Innere einer Geisterbahn nach Betriebsschluss wirken die teils riesenhaften Figuren, die sich hier zum „Third Annual Roggabogga“ zusammengerottet haben. Grausame Schwippschwager von B-Movie-Monstern sind sie, aus Plüsch und Wohlstandsmüll der Popkultur zusammengesetzt. Dass sie via elaboriertes Soundsystem miteinander kommunizieren können, macht sie für den Besucher noch mehr zur Bedrohung.

Mit Robert Lazzarini und Jim Campbell sind zwei Künstler vertreten, die letztes Jahr bereits auf der „Bit Streams“-Ausstellung des Whitney zu sehen waren. Lazzarini verzerrt Alltagsobjekte zu schrägen Skulpturen, deren Originalbestandteile er mit Hilfe von 3D-Computerprogrammen neu zusammenbaut. Für die Biennale versetzt er mit „Payphone“ eine New Yorker Telefonzelle in eine solche Schräglage, dass man auch dann nicht an ihre Physikalität glaubt, wenn man die Skulptur direkt vor der Nase hat. Auch Campbell führt den zweckentfremdeten Alltag vor: „Fifth Avenue Cutaway Nr. 1–3“ liefert ein Farbfeld aus jeweils 768 roten, sich zu Filmsequenzen zusammensetzenden Lichtdioden hinter milchigem Plexiglas. Wie bei Zeitungsfotos unter der Lupe ist der Betrachter ständig bemüht, in die bewegten Bilder, die sich gerade eben so von der reinen Abstraktion ins Gegenständliche retten, einen visuellen Sinn zu lesen – womit Campbell genau die Schnittstelle von digitalisierter Information und ihrer Bedeutung, von binärem Zahlencode und repräsentativem Abbild aufzeigt.

Was noch? Mit Chris Ware ist ein Comiczeichner vertreten, dessen unendlich herzzerreißendes Buch vom Elend des „Jimmy Corrigan, The Smartest Kid on Earth“ (2000) seine ganze Branche im Alleingang revolutionierte. Delia Bajo und Brainard Carey zeigen Videos aus ihrer „Praxis“ im New Yorker East Village, wo sie seit zwei Jahren vorbeieilenden Passanten mit einer kostenlosen Angebotspalette von Fußwaschungen bis Umarmungen aufwarten. Die 63-jährige Via Celmijns hat wunderschöne, kleinformatige Spinnennetze gemalt und der Exilchinese Yun-Fei Ji mit hohem technischen Aufwand eines der interessantesten Werke mit dem enigmatischsten Titel der Biennale geschaffen: „A Monk's Meditation on a Woman's Vagina Being Interrupted“ schildert in großformatigen Zeichnungen grausame Welten so detailliert wie einst Hieronymus Bosch, wobei Ji unter Verwendung traditioneller Tuschepinsel vor allem die Desaster des Imperialismus satirisch untermalt.

Sanford Biggers und Jennifer Zackin zeigen mit parallel laufenden, im Inhalt oft austauschbaren Super-8-Filmen aus ihrer afroamerikanischen bzw. jüdischen Kindheit, dass weniger race als immer mehr class in den USA identitätsstiftend ist. Schließlich stellt Videokünstler Jeremy Blake das kalifornische Geisterhaus von Sarah Winchester vor. Die Witwe des berühmten Waffenfabrikanten fürchtete nach seinem Tod in ihrer Villa von Phantomen aller durch Winchesters gewaltsam umgekommenen Menschen heimgesucht zu werden und ließ ab 1881 zu ihrem Schutz fast vierzig Jahre lang ständig neue Zimmer für gute Geister anbauen. So weiträumig wie das Whitney und seine Biennale wirkt die riesige Villa in Blakes Video trotz allem nicht.

Whitney-Biennale 2002, Whitney Museum of American Art, bis 26. Mai, Katalog: $ 45 www.whitney.org