Blutrache in Bremen

■ Familienfehde hält die Polizei in Atem: Einerseits soll sie vor Blutrache schützen, andererseits kommt sie gegen eine Mauer des Schweigens nicht an. Ein runder Tisch soll Lösungen bringen

Blutrache in Bremen? Der Anwalt einer kurdischen Familie nimmt die Lage ernst. Seine Mandanten würden von einem anderen Teil ihrer Familie mit dem Tod bedroht, sagt Erich Joester. Er hat die Innenbehörde aufgefordert, die bedrohten vier Familien, rund 30 Personen, ins Zeugenschutzprogramm aufzunehmen. Ein Polizeisprecher sagt: „Dafür sind die Voraussetzungen nicht gegeben. Der Anwalt erwidert: „Man darf nicht untätig zusehen, wie ein Unglück geschieht.“ Jetzt plant die Polizei einen „Runden Tisch“. Vertreter von Gerichten, Polizei und Soziales sollen den Fall beraten. Joester sagt: „Wenn Blut fließt, werde ich nicht schweigen.“

Blut ist schon einiges geflossen. Die jüngste Eskalation innerhalb der Großfamilie geht auf einen Todesfall vor rund vier Wochen in Woltmershausen zurück. Dort erstach ein 30-Jähriger, der zur jetzt bedrohten Gruppe gehört, seinen gleichaltrigen Cousin. Die Tat geschah auf einem Gelände der Deutschen Bahn, wo internationale Gebrauchtwagenhändler Geschäfte machen – wogegen die Anwohner nach mehreren blutigen Zwischenfällen protestieren.

Der Überlebende der Messerstecherei sitzt nach längerem Krankenhausaufenthalt wegen Totschlagsverdachts in Untersuchungshaft. Wo, darüber schweigt die Polizei – auch zu dessen Schutz. Er könne in Notwehr gehandelt haben, heißt es. „Dass er noch lebt, ist pures Glück“, sagt sein Bruder. Telefonisch. Mit zwei weiteren Brüdern sowie deren Söhnen, von denen einige studieren, versteckt er sich vor einem Verfolger: „Ein Verwandter oder einer, der Geld dafür bekommt.“ Frauen und Kinder der vier Brüder drängen sich unterdessen in einer kleinen Wohnung. Ab und zu schauen sie durch den Spalt zugezogener Vorhänge auf die Straße, wo sie die Feinde vermuten. Alle haben tiefe Ringen unter den Augen. „Die Kleinen waren seit Wochen nicht draußen“, sagen die Älteren besorgt. „Aber wir haben Angst, dass etwas passiert.“

Rache für den Tod des Sohnes soll der Onkel angedroht haben – der Vater des Erstochenen, der zugleich der Bruder der Mutter des Überlebenden ist. Die Schwester bestätigt: „Ja, wir hatten so einen Telefonanruf.“ Ihre Enkelin fleht: „Das hier ist schlimmer als Gefängnis. Jemand muss uns helfen.“ Alle halten den Onkel für gefährlich.

Der alte Mann selbst hat im Zuge polizeilicher Ermittlungen bestritten, eine Drohung gegen die Familie seiner Schwester ausgesprochen zu haben. Doch bei der Polizei nimmt man die Vorwürfe ernst genug, „Schutzmaßnahmen durchzuführen“. Welche, darüber wird geschwiegen. Die Ermittlungen laufen, die Lage sei ernst, zumal der Beschuldigte bei der Polizei kein unbeschriebenes Blatt ist. Gegen ihn und sein Umfeld – dazu gehört aus Sicht der Kripo durchaus auch der nun bedrohte Familienzweig – liefen schon Verfahren wegen schwer wiegender Delikte. Nicht immer gelang die Aufklärung. Bisweilen, weil die Ermittler auf eine Wand des Schweigens stießen.

Zuletzt war das so, als bei der Totenfeier für den erstochenen Sohn Schüsse an der Fatih-Moschee fielen. Menschen wurden verletzt, ein Mann festgenommen, doch die Hintergründe der Tat liegen im Dunkel. „Von den rund 200 Anwesenden will niemand etwas gesehen haben“, sind Polizisten entnervt. Über den Grund dieses Stillschweigens gibt es allseits nur Spekulationen.

Angst könnte eine Erklärung sein. Vielleicht auch die Erfahrung, dass Verschwiegenheit den größten Vorteil gegenüber deutschen Behörden bietet. Jedes Wort könnte zuviel sein, vor dem Hintergrund, dass die Polizei Hinweise hat, dass Teile der Familie Geschäfte in der Türkei machen. Und dass die Familie, die unter mehreren Namen aus der Türkei und dem Libanon kam, abgeschoben werden soll. Doch schon mahnt der Anwalt der offenbar Bedrohten: „In der Türkei gibt es vor Blutrache keinen Schutz.“ Der Onkel sei die Gefahr.

Dass das die ganze Wahrheit ist, muss bezweifelt werden. Denn die versteckten Brüder vermuten, dass der Onkel den Tod seines Schwagers verschuldet habe – des Vaters eben jener vier Brüder, die sich nun bedroht sehen. Von denen jedoch einer in das tödliche Geschehen in Woltmershausen verwickelt war. „Zufällig war er da“, sagt seine Nichte. Zufällig sei es zur Eskalation gekommen. Innerhalb der arabischen Bevölkerung Bremens wird das bezweifelt. Es geht das Gerücht, erst kürzlich seien Vorwürfe gegen den Onkel im Zusammenhang mit dem Tod des Schwagers laut geworden. Einem Tod, der lange zurückliegt und durch die Verheiratung zweier Kinder im Sinne der Familienehre als bereinigt galt. Hätte nicht kürzlich jemand das Schweigen gebrochen. „Das ist ein Feld für die Polizei“, sagt Bremens Ausländerbeauftragte Dagmar Lill. Vermittlung im Sinn von Mediation sei unangebracht.

Eva Rhode