Garten in Bewegung

Der französische Landschaftsarchitekt Gilles Clément setzt dem gezähmten Garten der Moderne die ursprüngliche Vielfalt und Wildheit von Gärten entgegen, die „sich selbst entwerfen“

von LAURA GÖBELSMANN

Paris, zwischen Bastille und Place de la Nation. Einer der Orte des Gilles Clément. Der Landschaftsarchitekt ist auf dem Weg, die Geschichte des Gartens zu revolutionieren. Bisher eine Geschichte mit wenig Natur und viel Kultur, erzählt sie von der Verwandlung einer unmittelbaren und partnerschaftlichen Beziehung in eine herrschaftliche. Eine Trennungsgeschichte also, voller Verluste und Sehnsucht, an deren Ende die Gefährdung beider Existenzen steht.

Der geometrisierte französische Garten à la Versailles, in dem Pflanzen, Bäume und Hecken zurechtgestutzt stramm stehen wie Soldaten vor ihrem absoluten Herrscher, ist das sinnfälligste Zeugnis für die veränderte Naturbeziehung. Doch auch sein ausdrückliches Gegenteil, der englische Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts, ist gestaltete Natürlichkeit, die Natur malerisch in Szene setzt, um etwa heitere oder melancholische Stimmungen zu evozieren. In ihm begegnet der entfremdete Mensch seinen Sehnsüchten wieder: dem „Anderen der Vernunft“ (Böhme/Böhme). Und zukünftige Gärten? Was werden sie über uns sagen?

Clément richtet seinen Blick ganz auf den Rhythmus und die Dynamik der Natur. Von ihr kommen die kreativen Impulse für den „Garten in Bewegung“. Ihre „enorme Fähigkeit, Raum zu erobern“, lässt sich besonders an Orten beobachten, die der Mensch aufgegeben hat: in den verwilderten Brachen. Von Gemeinden und Städten bisher wenig geschätzt, hat Clément sie rehabilitiert. Ein Beispiel aus Lyon zeigt, was daraus erwachsen kann: bunte Wiesen aus Kornblumen, Klatschmohn, Kornrade und Chrysanthemen. Einst Vorboten der Erntezeit, sind sie auf dem Land fast verschwunden. Jetzt haben sie ihr Refugium in der Stadt.

Oder Lausanne. La Ficelle, kleinste Metro der Welt. Es galt den überirdischen Teil zu gestalten. Die Lösung ist ebenso einfach wie verblüffend: Üppiger Fenchel, hoch gewachsene „wandernde“ Aralien, Wogen goldfarbener Riesengräser, kalifornischer Mohn, und wer an das berüchtigte letzte Kraut dachte, auch Tabakpflanzen sind dabei. Ein Bahndamm, an dem die Natur sich selbst entwerfen durfte.

Im Parc André-Citroën am Ufer der Seine haben Gilles Clément und der Architekt Patrick Berger einen Teil des riesigen ehemaligen Werksgeländes gestaltet. Neben ausgefallenen Gartensequenzen wie dem „Grünen Garten“, von dem man sagt, dass die Kinder dort ganz still werden, ein „Garten in Bewegung“. Viel zitiert, manchmal abgelehnt, denn er „hat keinerlei Tradition in Paris“. Erstaunlich die Vielfalt an Gewächsen mit unterschiedlichen Blütezyklen und Lebensdauer. Ungewöhnlich, obwohl biologisch gesehen „natürlich“, haben sie hier keine räumliche Begrenzung. Anders als in herkömmlichen Gärten, in denen den Pflanzen ein bestimmter Platz für eine bestimmte Zeit „zugewiesen“ wird, kann es sein, dass sie verschwinden und an unerwarteten Stellen des Gartens wieder auftauchen. So entsteht ein Garten, der sich räumlich und zeitlich ständig verändert, der immer in Bewegung ist.

Clément, der im Département Creuse aufgewachsen ist, begann mit fünfzehn Jahren im Garten seiner Eltern zu experimentieren. „Ich habe viele Dummheiten gemacht“, erzählt er, „weil ich keine Ahnung von Pflanzen hatte. Aber irgendwie hat mich das, was man üblicherweise Garten nannte, nicht interessiert. Ich fühlte mich an Orten vollkommen glücklich, die völlig wild waren, mit außergewöhnlichen Pflanzen, mit Tieren, viel Leben also.“ Mit La Vallée, seinem eigenen Garten, begann dann ein Weg, auf dem er erkannte, dass „Vielfalt aus allem entsteht“.

So kann sich im „Garten der Bewegung“ die wundervolle „Energie des Lebens“ verwirklichen. Es sind Orte der Lebensfreude. Und der Erinnerung: Hier finden wir die verloren geglaubten Wiesen der Kindheit wieder, hier haben die Gräser wieder Namen. „Durch sie, durch kleine Pflanzen, entsteht Vielfalt, nicht durch Büsche und Bäume.“ Und weil „alles in der Natur seine Richtigkeit hat“, macht Clément keine Unterscheidung zwischen „guten und schlechten“ Gewächsen. „Vagabunden“ wie der Fingerhut, Schrecken eines ordentlichen Gartens, werden auf ihrer Wanderschaft nicht gestört. Auch verwelkte Blumen haben ein Bleiberecht. Sie werden erst gemäht, wenn sie ausgesät haben. „Sonst verliert man die entscheidende biologische Botschaft für eine dynamische Ordnung, für neue, noch unbekannte Gärten“, betont er. Jedes Jahr werden die Konturen neu definiert, sodass auch der Besucher sich mal hier, mal dort bewegt.

Diese Gärten beanspruchen weniger Kosten und Energie, aber einen völlig anderen Blick, denn der Gärtner muss „die Eigendynamik eines Gartens in Bewegung erkennen und bei seiner Arbeit berücksichtigen“. Eine Aufgabe, auf die er schlecht vorbereitet ist. „Die Geschichte des Gartens ist immer vom Begriff der Ordnung geprägt worden, eine statische Ordnung von Hecken und Rabatten. Und alles, was sich davon entfernt, ist Unordnung, muss beschnitten, gejätet, tailliert und gemäht werden. Der Gärtner ist heute eher ein Techniker“, meint Clément.

Einige Besucher befremdet so viel von der Form befreite Natur. Schlecht gepflegt, lautet das Verdikt, gleichbedeutend mit nicht schön. Natur, ein ästhetisches Problem? „Ordnung wird häufig mit Sauberkeit assoziiert“, sagt Clement. „Das ergibt biologisch überhaupt keinen Sinn.“ Die biologische Ordnung sei noch nicht als Möglichkeit für eine neue Konzeption des Gartens wahrgenommen worden, bedauert er: „Die Form der biologischen Ordnung ist nicht sichtbar, sie ist eher eine Information.“ Cléments Vision: Der Garten der Zukunft „ließe die Evolution sprechen“. Fragen der Form oder Ästhetik „bringen uns da in eine falsche Richtung“.

Sein persönlichster Garten ist die „Domäne von Rayol“, an der südfranzösischen Côte des Maures. Unter dem üppigen Grün des Maquis: mediterrane Landschaften von Kalifornien bis Australien. Eukalyptus, Puyas, Bambus, Yuccas und „Black Boys“ wachsen hier nebeneinander, als sei das schon immer so gewesen. Landschaften, die sich berühren und ineinander übergehen, umgeben von Wiesen in Bewegung. Nicht nur Blütenträume im Frühling, auch Schutz vor Erosion.

In der Vielfalt der schon heimisch gewordenen Pflanzen aus fernen Ländern sah Clément die Möglichkeit, voneinander isolierte Lebensräume mit ähnlichem Klima und den entscheidenden Parametern – wenig Wasser und viel Feuer – an einem Ort zusammenzubringen. Um „Vorhandenes lesbar zu machen“, reiste er um die Welt. Vor allem in Chile, Australien und Neuseeland konnte er die Dynamik der Natur, „ihre ungeheure Fähigkeit zur Adoption“ beobachten. Länder, in denen der Einfluss des Menschen noch gering ist, Feuer, Wasser und Erosion eine wichtige Rolle spielen.

„Der Mensch ist immer gereist und hat aus Pflanzen Vagabunden gemacht“, sagt Clément. „Ich habe chinesische Rosen in Chile gefunden und amerikanische Robinien in den Brachen von Paris.“ Für ihn ist ein Garten, gleich welcher, „ein Index unseres Planeten“. Man sollte ihn heute betrachten als ein „Miteinander kompatibler Lebensgemeinschaften, als Biom, in dem jede Art in Beziehung steht zu der des Heimatkontinents“.

Rayol ist ein Index für die mediterranen Lebensräume unserer Erde geworden. Weder Museum noch botanischer Garten, sondern eine neue Landschaft. „Mit, nicht gegen die Natur“, die Maxime für den „Garten in Bewegung“, wird zur Philosophie des „Jardin Planitaire“. Ist es legitim, den Planeten wie einen Garten zu behandeln? Aus diesen Fragen entwickelt Clément einen Gegenentwurf zur Globalisierung, der uns einlädt, verantwortungsvoll als „Gärtner unseres Lebensraums“ zu handeln.

Parc André-Citroën, Quai André-Citroën, Paris. Le Domaine du Rayol, Rayol Canadel, www.domainedurayol.org, Dezember/Januar geschlossen. „Gartenlandschaft Ost-Westfalen/Lippe“, Ausstellung im Gräflichen Kurbad Driburg. Von Gilles Clément liegen auf Französisch vor: „Le jardin en mouvement“ (Sens et Tonka Editions, 300 Seiten) und „Le jardin planétaire“ (Editions de l’Aube, 196 Seiten)LAURA GÖBELSMANN lebt in Köln und befasst sich als Autorin mit Industrielandschaften