Liebe in den Zeiten von Aids

Das Leben ist noch immer ein ziemlich langer und ruhiger Fluss: John Bergers „Auf dem Weg zur Hochzeit“ unter der Regie von Brigitte Landes im Hamburger Schauspielhaus

Für einen Moment ein sentimentales Vom-Winde-verweht-Gefühl im Bauch

„Ich muss bestimmt gleich heulen“, sagt die Frau, die im Foyer auf Einlass ins Theater wartet. Offenbar hat sie John Bergers Roman „Auf dem Weg zur Hochzeit“ gelesen. Und zwar auf eine ganz bestimmte Art: Sie hat nämlich vor allem den Gefühlskern wahrgenommen, also jene herzergreifende Geschichte, die von der Liebe zwischen Ninon und Gino erzählt. Als Ninon an Aids erkrankt, wird diese Liebe auf die Probe gestellt. Geh!, sagt Ninon. Ich will dich heiraten!, sagt Gino. Schließlich feiern sie Hochzeit – eine Hochzeit im Angesicht des Todes. Das kann einem schon mal die Tränen in die Augen treiben.

Brigitte Landes aber, die den Roman fürs Theater bearbeitet und auch selbst Regie geführt hat, lässt zunächst einmal einen Eimer Sand auf die Bühne tragen. Der Erzähler im schwarzen Anzug schüttet den Sand aus und malt mit ihm eine Linie auf den Bühnenboden: Jetzt ist der Sand ein Fluss. Der Fluss ist – bloß keine Angst vor Allerweltsbildern – die Zeit: die Lebenszeit, die dahinfließt bis zum Tod. Außerdem markiert er die Verbindungslinie zwischen den verschiedenen Städten und Menschen, von denen erzählt wird. Der Fluss ist aber auch einfach ein Fluss – nämlich der Po, an dem die Hochzeit stattfindet. Gleich zu Beginn wird so das Prinzip Berger skizziert: dass die Dinge einfach die Dinge sind, aber eben auch das, was die Menschen in den Dingen sehen.

Was die Menschen sehen: Darum geht es auch in John Bergers Roman. Was sieht Ninon, die bald sterben wird? Was sieht Gino, der Ninon liebt? Was sieht Zdena, Ninons Mutter, die ihre Tochter verlassen hat, um in Bratislava zu leben? Was Ninons Vater Zean, der Eisenbahner, der so gerne Motorrad fährt?

Jeder sieht etwas anderes, jeder hat eine eigene Geschichte. Deshalb gleicht John Bergers Roman „Auf dem Weg zur Hochzeit“ einer vielstimmigen Komposition, deren Stukturprinzip der Wechsel der Perspektiven und Zeiten ist.

Nun könnte man meinen, eine derartige Vielstimmigkeit sei wie geschaffen für die Bühne. Brigitte Landes hat die Rollen auf ihre Schauspieler verteilt, einige von ihnen lässt sie mehrere Stimmen übernehmen. Der Erzähler ist auch der Blinde, dessen Talismann gegen den Tod machtlos ist. Der aidskranke Junge, der Ninon am Strand verführt, ist auch der Arzt, der ihre Krankheit diagnostiziert. Es scheint verführerisch einfach, Bergers Spiel mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf die Bühne zu übertragen: fast eins zu eins hat Landes den Text übernommen, hat nur hier und dort ganz sorgsam etwas umgestellt und natürlich gekürzt. Trotzdem ist das, was man dann tatsächlich auf der Bühne sieht, recht anders als das, was man gelesen hat.

Das ist zunächst auch gut so, denn Landes hat trotz aller Treue zum Roman versucht, eine eigene Bühnensprache zu finden. Im kargen Raum des Malersaals mit seinen hohen Betonwänden ist mit Tisch und Stühlen ein Restaurant skizziert, ein Fischerboot liegt da, als würde gleich die Sonne bei Capri im Meer versinken. So ist der Raum zwischen Realität und Vorstellung markiert, in dem sich die Reisenden, die von Bratislava und aus Frankreich zur Hochzeit kommen, bewegen. Dabei gibt es sehr gelungene, einzelne Szenen: etwa die Busfahrt, bei der die Mutter in ein Gespräch mit dem Taxifahrer verstrickt wird; oder Gino, der Ninon im Boot einen Heiratsantrag macht.

Trotzdem finden die einzelnen Szenen nicht recht zusammen und die Figuren bleiben über weite Strecken leblos – daran können weder die Musik noch gute Schauspieler etwas ändern. Und das hat einen ganz einfachen Grund: Es mangelt an Dialogen. Die Figuren sagen Sätze, die beim Lesen poetisch sein mögen, auf der Bühne aber wie hübsch drapierte Designermöbel wirken. Die verschiedenen Stimmen der Vorlage sind ja Gespräche mit sich selbst, aber auch Blicke auf diese Menschen. Ichstimme und Erzählerstimme wechseln sich ab. Doch von den genauen Beobachtungen und Details, mit denen Berger seinen Figuren Schärfe verleiht, gehen allzu viele auf der Bühne verloren.

Landes mag das gespürt haben und hat die Polyphonie des Anfangs immer mehr aufgegeben. Stattdessen hat sie auf den Gefühlskern gesetzt. Zielsicher steuert sie auf die Hochzeit zu und verlässt die Nebenpfade zugunsten der Liebesgeschichte. Das ist dramaturgisch konsequent, hat aber einen hohen Preis. Denn am Ende wird zwar Hochzeit gefeiert mit allem Drum und Dran, aber weder vom Tod noch von den sehr unterschiedlichen Sichtweisen ist da noch die Rede.

Man möchte heulen und hat für einen Moment dies durchaus angenehme, sentimentale Vom-Winde-verweht-Gefühl im Bauch. Dann ist der Moment vorbei. Und mit ihm ist auch schon der Theaterabend aus dem Kopf entschwunden.

ANGELIKA OHLAND