Das Fernrohr von Meudon

Mittendrin in der feudalen Ordnung: Eric Rohmers „L’Anglaise et le Duc“ erzählt von der Französischen Revolution als einer unendlich fernen Zeit. Elegant ist das Parlando der Figuren, aber die Geschichte verliert sich im Tagebuch der Protagonistin

von NIKLAUS HABLÜTZEL

Zeitgenossen sind nicht immer die besten Beobachter der Geschichte, die sich vor ihren Augen ereignet. So genau sie beschreiben können, was hier und jetzt geschieht, so schwer fällt ihnen, zu verstehen, was die Ereignisse bedeuten. Sie können ja nicht wissen, was Historiker wissen werden, und es scheint dieses eigentümliche Phänomen der blinden Nähe gewesen zu sein, das Eric Rohmer an dem Tagebuch der Lady Grace Elliot fasziniert hat.

Die Aufzeichnungen sind gedruckt erschienen unter dem Titel „Journal of My Life During the French Revolution“ und geben weniger Auskunft über die historischen Fakten als vielmehr Einblick in das Seelenleben dieser gebildeten, kultivierten, aber – so muss man sich beim Verlassen des Kinos auch eingestehen – seltsam verständnislosen Frau. Sie, nach kurzer Ehe geschieden, Mätresse des Prinzen von Wales, dem sie ein Kind gebar, und dann des Herzogs von Orléans, des Bruders von Louis XVI., konnte sich ein Leben außerhalb der Feudalordnung ganz einfach nicht vorstellen. Trotzig bewohnte sie ihr Haus in Paris, denn was da auf der Straße geschah, war nichts weiter als ein blutiger Aufstand des dummen Pöbels, ein widerwärtiger Aufruhr unflätiger Dienstboten, der unmöglich von Dauer oder gar der Anfang einer neuen politischen Ordnung sein konnte.

Also blieb die Lady und Liebhaberin des Adels in Paris. Höchstens flieht sie mal zu Fuß, man stelle es sich vor, an den Wächtern der Revolution vorbei zu ihrem Landsitz in Meudon. Zum Höhepunkt des Films – wie auch der Revolution, die er nicht schildern will – wird die Szene, in der Lady Elliot mit einer Dienstbotin zusammen auf der Terrasse ihres Landhauses auf die Stadt an der Seine herunterblickt. Sie lässt sich ein Fernrohr reichen, man sieht Rauch aufsteigen wie auf einem Gemälde, der Himmel ist bewölkt, und die Damen fragen sich, was der Lärm wohl zu bedeuten habe, der bis zu ihnen empordringt. „Sie jubeln dem König zu“, hofft die Lady aus Schottland, doch nein, die Magd weiß es besser. Der König wird enthauptet.

Dieser ungläubige, nur durch das Fernrohr erträgliche Blick auf die Geschichte, die noch keine sein kann, gibt diesem Film die Form. Aber er ist auch seine Grenze. Mit erstaunlicher Kunstfertigkeit – und Videotechnik – lässt Rohmer sein Personal in gemalten Kulissen spielen. Es sind Panoramen von ausgesuchter Schönheit, die unmerklich zu leben beginnen und damit stilistisch wie technisch den Bogen spannen zwischen der multimedialen Gegenwart und den Jahren der Französischen Revolution. Wir gleiten mühelos in diese Tableaus hinein, in denen eine Vergangenheit so gemalt ist, wie sie ihren Zeitgenossen tatsächlich erschienen sein mag. Aber selbst den blutigsten Szenen fehlt jede Dramatik. Noch nicht einmal Episoden einer Katastrophe sind sie, sondern vorübergehende Ausschnitte eines Bildes, etwa so, wie Lady Elliot Fragmente des historischen Schauplatzes in ihrem Fernrohr fixiert – nur für kurze Zeit, um sich anschließend angenehmeren Partien zuzuwenden.

Doch selbst Rohmer konnte aus diesem Zeugnis einer Verstörten keinen abendfüllenden Film machen. „L'Anglaise et le Duc“ erreicht nur selten die Prägnanz jenes Blicks von Meudon. Er versucht vielmehr der historischen Vorlage auch darin gerecht zu werden, dass er die Schicksale der Lady nacherzählt. Mit schottischer Bauernschläue rettet sie einem Adligen das Leben, immer wieder muss sie peinlichste Verhöre der Revolutionsgarden in ihrem Schlafzimmer erdulden. Das Kino wird dann zum Kammerspiel, in dem die herbe Schönheit Lucy Russels als Lady und ein ständig verschwitzter Jean-Claude Dreyfus als Herzog von Orléans beweisen, dass sie stilvoll geschliffene Dialoge sprechen können. Es ist das Parlando, das Rohmers Filmen schon immer Eleganz verlieh; hier jedoch wünscht man sich dann doch, dass es mehr zur Sprache bringt als das, was die Mätresse Elliot ihrem verflossenen Liebhaber vorzuwerfen hat. Über den Bruder des enthaupteten Königs immerhin konnten auch Zeitgenossen mehr sagen, und noch mehr gilt das für andere Figuren des Films, Robespierre etwa. Reduziert auf das Format, das Lady Elliots Tagebuch ihnen gibt, spielen sie brav ihre Rolle und verschwinden in einer unendlich fernen Zeit, die außerhalb dieses Films nie existiert zu haben scheint.

„L'Anglaise et le Duc“. Regie: Eric Rohmer. Mit Lucy Russel, Jean-Claude Dreyfus, François Marthouret u. a. Frankreich 2001, 125 Min.