Die Gedanken umarmen

Mit Richard Powers gibt es einen erstaunlichen Schriftsteller der Computerisierung zu entdecken. „Schattenflucht“ ist ein Versuch übers Fantasieren im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit

Unsere Wünscheund Ängste gerinnen zu unseren Technologien

von DIRK KNIPPHALS

Es gibt wohl kaum einen anderen Schriftsteller dieses Niveaus, der sich so intensiv auf die neuen digitalen Welten eingelassen hat. Und wenn zugleich irgendein Autor sich vorgenommen hat, die Kraft der Literatur auch unter verschärften Medienbedingungen zu behaupten, dann dieser.

Richard Powers, Jahrgang 1957, gehört zu der Respekt erheischenden Phalanx amerikanischer Schriftsteller im besten Schreibalter, die man in diesen Jahren für sich entdecken kann – David Foster Wallace, Denis Johnson wären noch zu nennen – wobei es wieder einmal indigniert der Tatsache ins Auge zu sehen gilt, dass auch dieser Entdeckung eine Verspätung innewohnt. „Schattenflucht“ ist zwar erst der zweite auf Deutsch erscheinende Roman, aber bereits der siebte, den Richard Powers schrieb. Daneben veröffentlicht er in allen wichtigen amerikanischen Zeitschriften. Einer, der sich nach dem Fertigstellen ziegelsteindicker Romane mit der Arbeit an ein paar kleineren Aufsätzen erholt, so stellt man sich das vor.

In der Literaturzeitschrift Schreibheft (Nummer 56) erschien im vergangenen Jahr ein schönes Dossier über Powers; darin finden sich allerlei Hinweise darauf, dass man sich diesen Autor als Literatur-Nerd, als sympathischen Verrückten, teilweise auch als seltsamen Heiligen vorstellen muss. Auf alle Fälle ist er eins dieser netten Rezeptionsmonster, die lieber zu wenig Schlaf als zu wenig Input kriegen und dabei auch noch ganz normal aussehen.

Als er in Boston mal hinter dem Museum of Fine Arts wohnte, wo man jeden Samstagvormittag freien Eintritt hatte, ging er halt jeden Samstag ins Museum. Sein erster Roman, sagt er, sei durch ein Foto von August Sander inspiriert worden: „Junge Bauern aus dem Westerwald auf dem Weg zum Tanz“. Er sah es an einem dieser Samstage. Powers: „Am Montag habe ich meinen Job gekündigt.“

Daneben hat er sich selbstverständlich durch die Weltliteratur gefräst. „Moby Dick“, „Lolita“, „Große Erwartungen“ werden in „Schattenflucht“ ausdrücklich erwähnt. Darüber hinaus betrieb er mancherlei naturwissenschaftliche Studien und erwarb sich vor allem aber auch intime Kenntnisse der allerneuesten Programmiersprachen.

Das Interesse für Computer ist dabei alles andere als nebensächlich. Kunst, Digitalisierung und menschliche Lebenläufe – das sind die drei Elemente, aus denen sich hier der Schreibimpuls speist. Befeuert wird er durch einen nicht eben bescheidenen Anspruch, den Powers wiederum im Schreibheft formuliert: „Aufgabe der Kunst ist es, uns von allem zu entfremden, was wir für selbstverständlich halten, und uns erneut in den Zustand bassen Erstaunens zu versetzen.“ Ein Satz, der, zwischen präpotentem Junggenietum und merkwürdig überfordernder Selbstverpflichtung schillernd, gehörig nach hinten losgehen kann. Aber darunter, durch Schreiben das Bewusstsein zu bannen und Seelen zu fangen, macht es dieser Autor einfach nicht.

Jedenfalls ist dies keine im Grunde traditionelle Erzählung, die sich mit avanciertem Computervokabular aufzupeppen sucht (wie das, dieser Seitenhieb muss erlaubt sein, unserem Nobelpreisträger in seinem „Krebsgang“ so exemplarisch misslang). „Schattenflucht“ ist eine groß angelegte literarische Versuchsanordnung, und es läuft ein Versuch über das menschliche Fantasieren im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit; Walter Benjamin hat Powers auch intensiv gelesen. Indem er von der Konstruktion der „Grotte“ in Seattle erzählt, einem Zimmer, das (wie man das vom Holo-Deck in „Raumschiff Enterprise“ kennt) alle gewünschten Raumensembles detailgetreu nachbilden können soll, erzählt er zugleich immer von den Motivationen ihrer Konstrukteure.

Die technische Entwicklung erscheint bei Powers nicht als ein Geschehen, das von außen über die Menschen kommt. Er setzt sich den menschlichen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten auf die Spur, als deren „geronnene Projektionen“ er in einem Essay mal unsere Technologien bezeichnet hat. Gedanken zur Tat werden lassen, ihnen zur Gestalt verhelfen, das ist für ihn die große Idee, die hinter der Virtualität steckt; sie ist für Powers nichts anderes als ein Werkzeug unseres Bewusstseins.

Diesen Ansatz spielt das Buch anhand einer Vielzahl von Lebensläufen durch. Bei Adie Klarpol, der einen Hauptfigur und Künstlerin, die man nach Seattle rief, weil man einsah, dass man ohne Kunst bei der Konstruktion visueller Räume nicht auskommt, gewinnt das Züge einer gesteigerten Desillusionierung. Als sie zu Beginn der Wunder der Virtualität ansichtig wird – eines wie echt wirkenden Dschungels, perfekter Nachahmungen jeden beliebigen Gemäldes –, begreift sie, „warum der Verstand es gar nicht abwarten konnte, digital zu werden“. Am Ende ist sie die Figur, an der Powers – wir schreiben die Jahre 1989, 1990 – das melancholische Bewusstsein durchdekliniert, an einem Projekt mitzuwirken, das längst von den Konzernen und der Armee ausgebeutet wird: Die Filme aus dem Golfkrieg, aufgenommen direkt aus den Sprengköpfen intelligenter Bomben, laufen über den Bildschirm.

Quer dazu und scheinbar unzusammenhängend erzählt Richard Powers die Geschichte des Martin Taimur, einer amerikanischen Geisel, die jahrelang in Einzelhaft in Beirut festgehalten wurde. Was in der „Grotte“ das große Ziel ist, das ist bei ihm die große Gefahr: dass seine Gedanken scheinbar wahr werden. Aufgrund der Isolation muss er ständig gegen das Wahnsinnigwerden ankämpfen.

Was das Buch nun zu einem literarischen Ereignis macht, das ist die Art und Weise, wie es mit den virtuellen Welten sprachlich in den Clinch geht. Manche Dialoge lesen sich zwar wie gelehrte Dispute, in denen Für und Wider der Computerisierung abgewogen werden. Aber was für Beschreibungen stehen daneben! Was für innere Monologe! Wie genau vermag dieser Autor Bewusstseinszustände oder visuelle Tableaus auszumalen! Wie nachvollziehbar gelingt es ihm, in den Kopf von Martin Taimur hineinzukriechen! Man gewinnt den Eindruck, Powers habe förmlich die Ärmel hochgekrempelt: Wollen doch mal sehen, was differenziertere Bilder im Bewusstsein erzeugt, die Computerprogramme oder die gute alte Sprache!

Es gibt noch etwas anderes, worüber man redet, wenn man über dieses Buch redet. Für innerweltliche Transzendenzgefühle ist Richard Powers nicht ganz unempfänglich. Mit religiösen Fragen darf man das nicht einfach verwechseln. An einer Stelle wird Martin Taimur, die Geisel, gefragt, ob er an Gott glaube. „Mein Staunen ist von anderer Art“, antwortet er. Eher schon wird man Richard Powers in die naturschwärmerische amerikanische Tradition einordnen können, etwa in die eines Henry David Thoreau, von dem überliefert ist, dass er im Gefühl des Einsseins mit der Natur einmal einen Baum umarmt habe.

Gegen Einssein wird auch Powers nichts haben. Nur dass bei ihm der Aspekt des Naturschwärmerischen deutlich zurückgedrängt ist. Würde er denn einen Computer umarmen? Das auch nicht. Einschlägig ist ein Satz, den Powers Adie Klarpol denken lässt: „Der größte Wert der plumpen, geistlosen, unaufhaltsamen Digitalisierung lag darin, dass zum ersten Mal bewusst wurde, wie grenzenlos und unerfassbar die analoge Welt für alle Zeiten bleiben würde.“ Im Zweifel tritt Powers immer für die menschlichen Sehnsüchte und Ängste ein, sie sind für ihn das eigentlich Staunenswerte. Digital ist toll. Analog ist toller. Am tollsten aber ist das menschliche Bewusstsein – und die Literatur als das Medium, in dem sich das Bewusstsein am differenziertesten ausdrücken kann.

Dass Richard Powers jemand ist, der Bücher und – im übertragenen Sinne – auch Gedanken umarmt, das kann man sich gut vorstellen.

Richard Powers: „Schattenflucht“. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2002, 542 Seiten, 24,90 €