Die Abgewiesenen

Wenn Mescheten bedroht werden, können sie nicht auf die Polizei hoffen. Das wissen auch die Gauner

aus Krasnodar KLAUS-HELGE DONATH

Machmud Taferow ist eine imposante Erscheinung. Groß, breitschultrig, mit einem Gesicht wie Omar Sharif. Besuch empfängt der 43-Jährige im Schatten auf einer Bank zwischen Tomatenfeld und Landstraße, an der die Frauen der Familie die Ernte feilbieten. Ein Patriarch und Gebieter wie er in den Süden gehört.

Eigentlich ist Machmud Taferow Arzt. Seinen Beruf hat er aber schon seit zwölf Jahren nicht mehr ausüben können. „Was bleibt uns anderes übrig, als von der Landwirtschaft zu leben“, erzählt er ruhig. Das sei nicht weiter tragisch, „nur die Umstände …“ An der Landstraße vom Kurort Anapa am Schwarzen Meer zur Kleinstadt Warenikowskaja türmen sich Kisten mit Tomaten, Auberginen, Paprika, Zwiebeln und Weintrauben. Die meisten Bauern und Händler gehören wie Taferow zum Volk der Mescheten, oder wie die Russen sie nennen, der Türken-Mescheten.

Die Mescheten sind ein kleines Volk, dem die Geschichte der Sowjetunion übel mitgespielt hat. Ursprünglich siedelten sie in Georgien an der Grenze zur Türkei. 1944 ließ Diktator Stalin sie in Viehwaggons verladen und nach Usbekistan in Mittelasien verfrachten. Tausende verhungerten oder erfroren.

1989 kam die nächste Tragödie: Im Ferganatal in Usbekistan wüten tagelang Pogrome – 69 Mescheten werden getötet. Hals über Kopf beschließt die Führung der Kommunistischen Partei, das bedrängte Volk nach Zentralrussland auszufliegen.

In den kalten Regionen von Smolensk und Belgorod werden die Mescheten nicht heimisch. Nach und nach zieht es viele in den Süden, nach Rostow oder Stawropol. Nach 1990 lassen sich 20.000 Mescheten im Kreis Krasnodar nieder. Von dort kehren Krimtataren und Griechen, die die neuen Freiheiten nutzen, in ihre Heimat zurück und verkaufen den Neuankömmlingen ihre Häuser.

Für Leute wie Machmud Taferow wird der Alltag zum Spießrutenlauf.

Vor dem Acker des Tomatenanbauers halten zwei BMW. Sieben Männer springen heraus. Das Gespräch verläuft anfangs ruhig. Dann wird die Stimme des Mescheten aufgeregter. Der Chef der Gang ist ein glatzköpfiger Stiernacken. Er bringt Schultern und Kopf in die Kampfbeuge. Es geht um Geld. Vor zehn Tagen habe er 20 Tonnen Tomaten gekauft, die auf dem Transport verrottet seien, behauptet er. Vergammelte Ware und Kisten brachte er aber nicht zurück. Taferow wehrt sich. Schließlich hätten beide Parteien stundenlang die verderbliche Ware geprüft. Er muss Zeit gewinnen. Dem Trick der Einkäufer entgeht nur, wer ihnen nicht alleine gegenübersteht. Heimlich geht ein Freund Taferows los, um Hilfe zu holen.

Nicht die Polizei, denn die greift nicht ein, wenn Mescheten bedroht sind. „Das wissen die Betrüger und schlagen Kapital aus der Situation“, meint Sarwap Tjedorow, der umtriebige Vorsitzende der meschetischen Interessenvertretung „Watan“ in Warenikowskaja. Seit zwölf Jahren kämpft er darum, dass seine Landsleute im Kreis Krasnodar wie normale Menschen behandelt werden. Die Behörden verweigern den Einwanderern noch nach einem Jahrzehnt die propiska, die polizeiliche Anmeldung. „Ohne diesen Vermerk bist du ein herumstreunender Wilder“, sagt Sarwap.

Auch Machmud Taferow hat keine propiska. Auf die Polizei kann er nicht hoffen, wenn er ein Problem hat. Dass sie für einen Mescheten Partei ergreift, wäre ein Wunder. So ist es Taferows Glück, dass der Tomatenstreit am Ende noch einmal glimpflich ausgeht.

Wer keine Anmeldung hat, muss Strafe zahlen und wird so zur ständigen Geldquelle für die Bürokratie mit ihrem triebhaften Bereicherungsinstinkt. 17.000 Menschen sind davon betroffen.

Das System der propiska stammt noch aus Sowjetzeiten und sollte die Bewegungsfreiheit der Bürger einschränken. Die neue russische Verfassung garantiert die freie Wahl des Wohnortes. Die Praxis sieht anders aus. Verwaltungen entscheiden nach Gutdünken, wen sie eingemeinden oder abweisen.

In Krasnodar treibt die Adminstration die Abneigung gegen alles Fremdartige auf die Spitze. Das Lokalparlament beschloss Ende 2000, die ungeliebten Mitbürger mit Hilfe eines Referendums loszuwerden. Das Vorhaben scheiterte am Geld. Nicht etwa am Einspruch des Kremls. Der hatte sich seit Putins Präsidentschaft eigentlich das Ziel gesteckt, den Wildwuchs des regionalen Rechts mit föderalem Recht in Einklang zu bringen. In Krasnodar gelang es nicht.

Im Gegenteil, Gouverneur Alexander Tkatschew will drakonischere Strafen gegen die Bürger ohne propiska verhängen. Heute soll das Lokalparlament ein entsprechendes Gesetz verabschieden. Auch die Einrichtung von Abschiebelagern, so genannten „Filtrationspunkten“, wurde in Anwesenheit des Gebietschefs besprochen. Er will die Mescheten nach Georgien, in die Türkei oder sonst wohin, deportieren. Tkatschew behauptet, Putin habe ihn angewiesen, tätig zu werden, ohne das neue föderale Einwanderungsgesetz abzuwarten.

So etwas würde der Präsident nie sagen, dementiert Alexander Smirnow von der Kremlkanzlei am Telefon. Und der für die Meschetenfrage zuständige Minister Wladimir Sorin schickt ein Fax hinterher: Niemand plane Auffanglager, versichert er. Ohnehin seien die Beziehungen der Nationalitäten ein „systembildender Faktor“ im russischen Staatswesen: „Daher kann der Präsident eine Zuspitzung der Beziehungen nicht befürworten.“

Gleichwohl steht fest, Moskau weigert sich, die Konsequenzen aus der Rechtsnachfolge der UdSSR zu übernehmen und der Minderheit zu helfen.

Die polizeiliche Anmeldung ist der Schlüssel zu allem. Sie erlaubt, Grund und Boden zu pachten, die Ernte zu verkaufen, auf dem Markt zu handeln, Kindergeld oder Rente zu beziehen, den Führerschein zu verlängern. Wer keine propiska hat, ist auf Mittelsmänner angewiesen oder muss die lokalen Machthaber bestechen. Absurderweise dürfen die Mescheten ohne eine polizeiliche Anmeldung im Kreis Krasnodar das Gebiet nicht verlassen. Sie sind ein Volk unter kollektivem Hausarrest.

Aber sie schlagen sich durch und gar nicht so schlecht. Die Landwirtschaft in den Bezirken Anapa und Krimski wirft eine üppige Ernte ab. „Im Vergleich zu den Vorjahren“, sagt Landwirt Taferow, „war die letzte Ernte verregnet.“ Gleichwohl bringt ein Hektar etwa 60 Tonnen Tomaten, die Nachbarn, meist Russen, fahren nur 20 ein.

Neid bleibt da nicht aus, Hetze auch nicht. Mit Schlagzeilen wie „Türken vergiften uns mit Chemikalien“, „Russischer Junge von türkischer Kuh aufgespießt“, heizt die Lokalpresse die Stimmung an. Als im August nach einer Messerstecherei der Täter entkam, standen die Schuldigen schon fest. Tage später konnten Mitarbeiter der Interessenvertretung Watan den Flüchtigen stellen. Der Messerstecher war kein Meschete. Für Lokalpolitiker und Medien war das kein Grund, sich zu entschuldigen. Der Generalverdacht muss aufrecht erhalten werden. Denn „ein Zusammenleben mit den Türken“, schrieb die Zeitung Prisyw, könne es nicht geben. Warum? Das kleine Völkchen sei die Fünfte Kolonne der Türkei, ja Vorbote eines neuen Kosovo.

Mawluda Schachmamedowa ist der Lüge und Hetze überdrüssig. Seit die 37-jährige Lehrerin Usbekistan verlassen musste, hat sie nicht mehr unterrichtet. Auch ihre Familie lebt von der Feldarbeit. Schachmamedowa hegt kaum noch Hoffnungen. Ihren Sohn Rafik habe eine Lehrerin einmal gefragt: „Warum strengst du dich an, du wirst sowieso nur Bauer?“ Schachmamedowa hat Angst – Angst, ihren Kindern könnte Gewalt angetan werden.

Im vergangenen Jahr fielen Kosaken im Dorf Nowoukrainsk über die Mescheten her. Mit Bussen waren die Kosaken aus der Gebietshauptstadt Krasnodar und anderen Orten gekommen. Sie drangen in Häuser ein, verlangten die Pässe und malträtierten die Männer. Am Ende ging ein türkisches Geschäft in Flammen auf. „Davor habe ich Angst“, sagt Mawluda Schachmamedowa und zeigt auf eine Decke im Flur. Darunter sind Kanister versteckt: „Benzin. Wenn sie kommen, stecke ich unser Haus an.“

Die Kosaken halten sich für die Herren der Region. Nach einer Messerstecherei in der Kleinstadt Sauk Dere verlangte die Versammlung der selbst ernannten Ordnungshüter, alle türkischen Bewohner aus dem Dorf zu vertreiben. Unter dem Sitzungsprotokoll vom 23. August steht auch die Unterschrift des Chefs der Kosakenschwadron in Sauk.

Der Staat duldet die Übergriffe nicht nur, die Haufen wurden vielerorts sogar mit quasipolizeilicher Gewalt ausgestattet. Ihre Devise: Krasnodar ist unser. „Der russisch-orthodoxe Glaube ist die Wiedergeburt Russlands“, steht über dem Geschäft am zentralen Platz in Warenikowskaja. Jeder Kunde muss unter der Inschrift hindurch, ob Muslim, Buddhist oder Schamane. Die Kosaken verstehen sich als Träger der wahren russischen Werte und verteidigen eine Tradition, die im Zentrum fast in Vergessenheit geraten ist. In ihrer Rolle als eine Art Vorpostenvolk müssen sie sich ihrer unablässig selbst vergewissern, indem sie die „anderen“ mit Gewalt beherrschen.

Kibar Osmanow findet nicht, dass er zu den anderen gehört. Er hat Russland verteidigt. Der fast 80-Jährige wurde in Stalingrad schwer verletzt, ein Jahr später verlor er beim Rückzug der Deutschen in der Ukraine ein Bein. Heute lebt er im Dorf Nowoukrainsk. In seinem Wohnzimmer hängt sein Ordenskissen mit zehn Tapferkeitsmedaillen, daneben ein Foto seines Bruders. Er ist einer der 20.000 Mescheten, die für Russland gefallen sind. „Ich fühle mich heute schlechter als im Krieg“, sagt der Veteran. Rente bezieht er in Stawropol, 600 Kilometer entfernt. Krasnodar verweigert auch ihm die propiska.