In weiter Ferne zu nah

Die Abwehr des Fremden und die Schönheit der Feinde: Funktioniert die ideologiekritische Abwehr der Klassik? Eindrücke aus der Ausstellung „Die griechische Klassik – Ideal und Wirklichkeit“ in Berlin

Harmonisierung? Immer wieder stößt man auf Regelverstöße

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Es begann mit einem Mord. So behauptet die Geschichte in Stein. Zu den Gründungsmythen des antiken Stadtstaates Athen gehört der Tyrannenmord: Die beiden Mörder wurden in Statuen porträtiert. Obwohl ihr Attentat noch nicht zur Befreiung von der Tyrannei geführt hat, sondern zunächst noch größeren Druck auslöste, wurden Harmodios und Aristogeiton zu Volkshelden stilisiert und als Gründungsheroen der Demokratie besungen. Ihr Denkmal, um 477 vor Christus, dreißig Jahre nach dem Attentat, aufgestellt, markierte den Beginn eines Bildprogramms, das der neu gewollten politischen Identität eine große Präsenz im Alltag zusicherte. Zu zeigen, wer man geworden war, aus eigener Kraft und eigener Entscheidung: darauf konzentrierte sich in der griechischen Kultur des 5. Jahrhunderts vor Christus Politik und Kunst.

Mächtig schreiten Harmodios und Aristogeiton aus im Lichthof des Martin-Gropius-Baus in Berlin. Entschlossen, gespannt und zu allem bereit empfangen sie in einer römischen Kopie den Besucher der Ausstellung „Die griechische Klassik – Idee oder Wirklichkeit“. Wind von Ventilatoren fährt unter die Tücher an den Seiten der Halle, einen Hauch der Weite antiker Stadtplätze halluzinierend. Einen Moment lang ahnt man die ursprünglichen Proportionen und weiß jetzt zumindest, dass man im Durchgang durch die gut bestückten Säle nie in den richtigen Abstand eintreten kann. Man ist immer zu nah dran oder zu weit weg. Denn zwischen dem überlieferten Detail und den noch in Ruinen aufzusuchenden ganzen Anlagen fehlt immer unendlich viel. Aus der Rekonstruktion dieser Lücken haben sich nicht nur Mythen und Kunst gespeist, sondern auch ganze Wissenschaften und Theorieproduktionen: der Geschichte, der Archäologie, der Weimarer Klassik, der Französischen Revolution, der Psychoanalyse und des Feminismus, um nur einige zu nennen.

Zu einem glatten, eindeutigen Ende aber kommt man nie im Spiel der Deutungen. Ein Verdienst der Ausstellung, die viele wertvolle Leihgaben zusammengebracht hat, ist ihre Offenheit gegenüber unterschiedlichen Theorieansätzen. Hier wird keine These bebildert und Kunst nicht als Geschichtsersatz funktionalisiert.

Ein Beispiel für die nicht zu entscheidende Doppeldeutigkeit sind die Amazonen, feindliche Kriegerinnen, die zu besiegen zu den konstituierenden Voraussetzungen des hellenistischen Ideals gehörte. Da weiß man jetzt, was in diesem Feindbild alles Übles beschlossen lag: von der Geschlechterdichotomie, die Frauen als das Wilde und Unvernünftige diskreditiert, bis zur Ausgrenzung des Orientalischen. Bis heute ist in der Abwertung des Fremden ein Muster wirksam, das in der Opposition Griechen gegen Barbaren seinen Ausgangspunkt nahm.

Dann steht man vor ihnen, drei Amazonen, die einer Anekdote gemäß aus einem Bildhauerwettbewerb hervorgegangen sind: im Kontrapost, den Blick gesenkt, einen Arm leicht abwehrend erhoben. Ein wenig traurig sehen sie aus, für Nymphen vielleicht ein wenig zu kräftig, doch keinesfalls weit entfernt vom Ideal der Schönheit. Vorstellen, dass sie den Hass auf die Feinde schüren und wach halten sollten, kann man sich nicht. Die ganze ideologiekritische Abwehr der Klassik schmilzt vor der Schönheit ihrer Feinde dahin.

Ähnlich geht es mit den Sklaven, den Unfreien. Sie als Menschen nicht anzuerkennen, ihnen keinen Schutz und keine Rechte einzuräumen, gehörte wie der Kornanbau oder der Seehandel zu den ökonomischen Voraussetzungen für das Funktionieren des demokratischen Schauspiels, das sich die Bürger der Stadtstaaten gaben. Der Katalog scheut sich nicht, die Ausbeutung dieser menschlichen Ressource mit der Vernichtung durch Arbeit in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu vergleichen. Aber wo man sie sieht, die Sklaven, auf den Grabstelen zum Beispiel, eingeordnet unter die trauernden Familienmitglieder und vielleicht auch zur Kennzeichnung des Status des Verstorbenen einbezogen, wirkt diese Nähe fast liebevoll. Man mag nicht glauben, dass die ikonografische Ähnlichkeit zwischen den Grabstelen der Athleten, die dort mit einem kleinen Knaben-Sklaven abgebildet sind, und den homoerotischen Bildern von Lehrern mit ihren Epheben nur Zufall ist. Von dieser Verklärung der Beziehung weichen nur wenige Darstellungen ab: Da gibt es für ein Trinkgefäß einen Sockel, in dem sich ein Krokodil in den Körper eines Schwarzen verbissen hat. Das Trinkhorn selbst ist mit einer Heldenszene bemalt, der Ständer hält der heroischen Geste die Groteske entgegen.

So entzündet sich am Sehen immer wieder der Zweifel, und für das Sehen sind Ausstellungen gemacht. Nachlesen kann man später. Zum Beispiel über den „so genannten Jüngling von Mozia“ aus Marmor, gefunden auf Sizilien. Die Arme fehlen ihm, aber eine Hand in der Hüfte und das vorgeschobene Knie reizen die Möglichkeiten der kontrapostischen Bewegung aus, die den Stilkundlern als Beweis für das große Können der klassischen Bildhauer im Gegensatz zu den statuarischen, archaischen Vorgängerkulturen gilt. Sein Gewand aber, ungewöhnlich fein in der Fältelung und in der Transparenz, wird eher als orientalisch denn als griechisch angesehen. So muss die Frage, war er Grieche oder gehörte er zu den Phöniziern, offen bleiben. Ähnlich verwirrend sind einige kleine Terrakotten von sehr androgynen Jünglingen mit weiblichen Haartrachten und weiblichen Hüften, die in so großer Zahl in der Nähe von Theben gefunden wurden, dass man auf einen reichlichen Gebrauch in privaten Haushalten schließen kann. Aber wozu? Mehr als Vermutungen wagen die Wissenschaftler nicht.

Man weiß es ja, man darf das ästhetische Ideal nicht mit einer historischen Dokumentation verwechseln und hat doch wenig mehr als die Hardware der Kunst, um auf die Programme der Politik, Ethik und Philosophie zurückzuschließen. Mehrere Räume der Ausstellung sind dem Thema „Maß, Vermessung, Arkribie und Größe“ gewidmet: Sie demonstrieren nicht nur, wie sich im Verhältnis der Proportionen symbolische Ordnungen spiegeln, sondern auch wie das öffentliche Bildprogramm im verkleinerten Maßstab in den Alltag Einzug erhielt. Diese Ausbreitung einer Bildrhetorik, die Politik, Religion, Mythos und Theater gleichermaßen durchdrang, hat die Vorstellung von der Einheit der Klassik geprägt. Das war entscheidend für die Rezipienten der griechischen Klassik, vom römischen Kaiserreich angefangen über die Renaissance und den preußischen Klassizismus bis zu den Diktaturen des 20. Jahrhunderts: an die Geschlossenheit ihrer Performanz zu glauben, einer Harmonisierung der Aufführung in Politik und Kunst und einer Normierung des Idealen. Doch schaut man sich alles an, lassen sich Normierungen und Polarisierungen, die später mit legitimatorischen Rückgriff auf die Klassik begangen wurden, auch als Verengungen und Reduktionen erkennen. Denn immer wieder findet man Regelverstöße und Ambiguitäten.

Die Antike wird verbraucht, heute so schnell wie nie zuvor. Das stellt der Archäologe Wolf-Dieter Heilmeyer, Direktor der Antikensammlung Berlin und verantwortlich für das Konzept der Ausstellung, im Katalog schon mit Hinblick auf den touristischen Run auf Ausgrabungsstätten und die Vernichtung durch Umweltschäden fest. Mit Schwund muss man rechnen. Man sieht es an einem Apoll aus grün patinierter Bronze, von dem nur noch der Kopf existiert. Als Bauern ihn auf Zypern fanden, gaben sie den Kopf zwar ab, verscherbelten den Rest aber an Altmetallhändler. So wurde die Bronze umgeschmolzen zu Glocken für die Ziegen und Schafherden in den Bergen. Die Überlieferung behauptet, am Klang noch immer die Herkunft von Apoll zu erkennen.

Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 2. Juni; von Juli bis Oktober in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn