Das Paradies als Garten neu erschaffen

Der heute vor 410 Jahren geborene Universalgelehrte Johann Amos Comenius lehrte ein Leben im Einklang mit der Natur als Grundlage allen Lernens. Nun wird ein Neuköllner Garten nach seinen pädagogischen Ideen gestaltet. Mit internationaler Unterstützung wächst hier eine universitäre Einrichtung

von WALTRAUD SCHWAB

Die erste universitäre Einrichtung in Neukölln, so sie in zwei Jahren denn Wirklichkeit wird, heißt „Werkstatt des Wissens“. Noch nicht begonnen, hat sie bereits eine 410-jährige Geschichte, spielt doch der am 28. März 1592 geborenen Johann Amos Comenius dabei eine Rolle. Nicht grundlos nämlich schenkte Prag der Stadt Berlin eine Statue des Universalgelehrten an dessen 400. Geburtstag. Sie steht – und auch das macht Sinn – in einem kaum fußballfeldgroßen Garten in der Neuköllner Richardstraße, der nun zur Grundlage des akademischen Vorhabens wird.

Die Richardstraße liegt mitten im Böhmischen Dorf. Das ist einer der wenigen innerstädtischen Orte in Berlin mit Gehöften und Stallungen. Allerdings sind aus den denkmalgeschützten Gebäuden längst Garagen, Möbellager oder Dachdeckerwerkstätten geworden. Bis heute aber leben Nachfahren böhmischer Religionsflüchtlinge hier: Zoufalls, Motels, Matschats, Krysteks.

Comenius war der letzte Bischof der „Böhmischen Brüderunität“, einer Religionsgemeinschaft, die den Hussiten nahe stand. Glaube, Wissen und Natur sollten, so ihre Überzeugung, in Einklang miteinander sein. Ab 1620, als die Habsburger in Böhmen die Krone übernahmen und das Land rekatholisierten, wurden sie verfolgt. Mit dem Westfälischen Frieden 1648 wurde die Unität aufgelöst. Viele der Religionsanhänger verließen ihr Land.

Noch Mitte des 18. Jahrhunderts gab es Auswanderungswellen von heimlich praktizierenden Mitgliedern der Kirche. 1737 siedelte Friedrich Wilhelm I. auf dem Rixdorfer Schulzengut 350 Religionsflüchtlinge an. Heute ist das jene dörfliche Enklave mitten in Neukölln. Dafür ließ der König neun Doppelgehöfte bauen und schenkte sie den Verfolgten „mitsamt 36 Pferden, 36 Kühen und allerlei Gerät“.

Die Ideen, für die Comenius im 16. Jahrhundert verfolgt wurde, sind auch heute aktuell. Für den Theologen, Philosophen und Pädagogen ist der Mensch ein die Knechtschaft ablehnendes Wesen, das unter dieser Prämisse das Zusammenleben aller aufbaut, in Einklang mit der Natur, die die Grundlage allen Lernens ist. Dabei ist die Vorstellung von „lebenslangem Lernen“ für Comenius bereits eine Selbstverständlichkeit. Aber auch, dass allen Menschen alles gründlich, nicht oberflächlich und ohne Zwang gelehrt werden müsse. Egal ob arm oder reich, sozial schwach, geistig zurückgeblieben, ob Mann oder Frau. Gelernt werden soll durch „Selbstsehen, Selbstsprechen, Selbsthandeln und Selbstanwenden“. Dabei müssen das Wesen, der Ursprung und das Ziel aller Dinge verstanden werden. Die letzte Wissensstufe erreicht, wer die Folgen des Handelns durchschaut. Eine Quintessenz seiner Philosophie: Der Mensch müsse das Paradies als Garten neu erschaffen.

Bis heute steht die Realisierung der Vorstellungen von Comenius aus. Es brauchte einen Visionär wie den Wissenschaftshistoriker Henning Vierck, um dies in Angriff zu nehmen. Kinder nennen ihn gerne „Viereck“. Ganz Unrecht haben sie nicht. Der Mann ist stattlich und groß, mit lockigem, rotblondem Bart. Zusammen mit der Landschaftsarchitektin Cornelia Müller hat er in dem kleinen Garten im Böhmischen Dorf den Versuch unternommen, die Ideen von Comenius der Gartengestaltung zugrunde zu legen. Auch an Optimismus fehlte es ihm nicht. Nur so konnte er hoffen, dass sein Paradies ausgerechnet in Neukölln ein Modellfall für soziales Lernen wird.

Die pädagogischen Eingriffe, die im Comenius-Garten umgesetzt wurden, sind subtil, aber nicht ohne Wirkung. Dazu gehört, dass der Eingang verschlossen ist. Wer aber weiß, wie, kann das Tor ohne Schwierigkeiten öffnen. Mehr braucht es nicht, um denen, die drin sind, das Gefühl zu geben, Teil einer „Geheimgesellschaft“ zu sein. Sie gehören dazu, und ohne es sofort zu verstehen, übernehmen sie dafür die Verantwortung: Sie entscheiden, mit wem sie ihr Wissen um das Geheimnis des Einlasses teilen.

Kirschen im Beet

Begehren ist in dieser kommunalen Oase die Grundlage der Pädagogik. Wie kommt man an die Kirschen, die mitten in den Blumen stehen, die für andere wertvoll sind? Wie erobert man sich die Sitzbank, die von Brennnesseln umgeben ist? Wie findet man, wovon andere schwärmen? Wie schmeckt, was man nicht kennt?

Pfirsiche, Haselnüsse, Äpfel, Birnen, sämtliche Beerenfrüchte Mitteleuropas wachsen hier. Vierck dokumentiert den Vandalismus aus den ersten Jahren, als an den noch jungen Bäumen die Zerstörung geprobt wurde. Abgebrochene Äste, geschälte Stämme, getötete Molche im knietiefen Teich, der hier das „Weltenmeer“ ist. Er bestätigt jedoch beharrlich, dass längst nicht mehr so viel kaputtgemacht werde. „Die Kinder beginnen, den Garten als etwas Dauerhaftes zu begreifen, einen Ort, wo sie sein können, nicht sein müssen.“

Mit Engelsgeduld glaubt Vierck daran, dass „angewandte Philosophie“ im Grünen auch an den trittstarken Neuköllner Rabauken nicht ohne Wirkung bleibt. „Der Garten muss als Intervention in eine soziale Struktur begriffen werden. Es ist keine Goodwill-Aktion, die die Nächstenliebe predigt“, sagt Vierck. Hier gehe es vielmehr darum, im Kleinen einen Ort zu schaffen, in dem soziale Verantwortung durch die Auseinandersetzung mit der Natur entwickelt werde. Deshalb pflegen und gestalten Kindergärten und Freiwillige auch die Anlage zum Teil.

Lehrer und Ärzte in Berlin – vor allem in den verarmten Bezirken, zu denen auch Neukölln zählt – schlagen Alarm. Gesellschaftliche und soziale Defizite nehmen zu. Aggression und Zerstörungswut spiegle die Familienverhältnisse. Kenntnisse kleinster sozialer Vereinbarungen fehlten. Die Kinder wissen nicht, dass etwas Geliehenes zurückgegeben werden soll, dass Tiere nicht gequält werden, dass Fremdes nicht Eigenes ist. Viele wissen nicht einmal mehr, was Vertrauen ist. Verantwortung für das eigene Handeln könne so nicht gelernt werden. „Kinder, die die Welt nur noch über die Abbildung auf dem Bildschirm erleben, können zwischen Gewalt und Liebe nicht mehr unterscheiden“, glaubt Vierck.

Lernen beginne mit der Verführung zum Lernen. So will es Comenius, der für alle eine sechsklassige Grundschule forderte, in der zuerst das Sehen und dann das Verstehen des Gesehenen gelernt wird. Das Veilchenbeet, das derzeit im Garten aufgeht, markiert den Eintritt in diese Phase. Veilchen riechen nicht da, wo sie blühen, sondern in kleiner Entfernung dazu. Die Verlockung reicht bis jenseits des Zauns. Jemand muss dem Kind demnach das Tor zum Verstehen öffnen.

Im Comenius-Garten führen weitere Stufen des Lernens an Rosenhain, Weltenmeer, mosaischem Becken, Irrgarten und Seelenparadies vorbei. Lateinschule und Akademie vervollständigen den Bildungsweg, den der Gelehrte bereits vor 350 Jahren forderte. Weil Comenius jedoch das ganze Leben als einen Lernprozess versteht, ziehen sich seine Ideen auch durch das Böhmische Dorf. Der an den Garten grenzende Spielplatz steht für Comenius’ „Mutterschule“. Der unweit davon wachsende Walnussbaum für sein Konzept der „vorgeburtlichen Schule“. In Böhmen wurde für Neugeborene ein solcher gepflanzt. Das Dorf selbst, in dem gewohnt und gearbeitet wird, ist die „Schule des Lebens“. Der „Böhmische Gottesacker“ in der Kirchhofstraße, ältester intakter Dorffriedhof mit Grabmalen aus dem 18. Jahrhundert, deren Inschriften in tschechischer Sprache sind, schließt den Kreis als „Schule des Todes“.

Dass der Garten direkt im Böhmischen Dorf ist, macht ihn als Ort angewandter Wissenschaftsgeschichte einmalig. Um ihn in Zukunft zu sichern, wird hier in Kooperation mit der Karls-Universität Prag, der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, der Freien Universität Berlin und der Max-Planck-Gesellschaft die „Werkstatt des Wissens“ entstehen. Rückbindung von Wissenschaft in den Alltag ist das Ziel. „Die ‚Werkstatt des Wissen‘ soll das, was sich im Garten an sozialem Lernen und sozialer Kompetenz entwickelt hat, aufgreifen und in der vorhandenen Sprache zurückgeben“, so Vierck.

Ein ungenannter Mäzen und Investor wird das kleine universitäre Gebäude auf dem Flurstück bauen, das an den Garten angrenzt. Der Architektenwettbewerb ist gerade abgeschlossen. Gewonnen hat ein lichtdurchfluteter Kubus des Architektenduos Dellung + Euler, dessen Verschattungen an die lamellenartigen Fensterläden erinnern, die im Böhmischen Dorf an manchen historischen Häusern noch angebracht sind.

Weltwissen der Kinder

Am Prolog für die „Werkstatt des Wissens“, der nächsten März beginnen soll, wird bereits gearbeitet. Zusammen mit Neuköllner Kindertagesstätten wird das Weltwissen der Siebenjährigen vorgestellt. Beispielhaft ausgeführt an der Schrift und den Geheimschriften der Kinder. Denn dahinter verberge sich die Frage: „Wann lernen Kinder, mit Virtualität umzugehen. Und wie?“

Der Comenius-Garten aber bleibt die orginäre Plattform für das Neue. „Dort werden Gedanken aus einer Zeit, die es nicht mehr gibt, in die Gegenwart gebracht“, sagt Vierck. Vision eines Einzelnen? Phantasma für alle? Oder Individualismus mit Charme? Bescheidener sein: „Verstehen Sie es als Laienkultur“, sagt Vierck. „Der Garten lebt von dem, was andere daraus machen. Wenn man ihn entdeckt, ist er sehr attraktiv.“ Das Liebespärchen, das sein Rendezvous in der Laube hat, die hier „Seelenparadies“ heißt, bestätigt dies.