Vom persönlichen Glück

Der ZDF-Vierteiler „Liebesau – die andere Heimat“ zeigt ab heute, wie die Bewohner eines sächsischen Dorfs die Zeit von 1953 bis 1989 erleben (die weiteren Folgen: Do., So., Mo., 20.15 Uhr)

von GUNNAR LEUE

Wenn Jörg Schüttauf in Westdeutschland unterwegs ist, und das ist der Schauspieler oft, dann denkt er manchmal verwundert: „Das ist ja hier wie im Osten.“ Dass die Leute sich ähnlich kleiden, ähnlich denken – irgendwie freut das Schüttauf, den es oft störte, wenn seine „kleine alte Heimat“ verhöhnt wurde, bloß weil sie mal ein Stück DDR war.

Schüttauf, 1961 im sächsischen Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) geboren, erlebte diese so, wie Leander Haußmann sie in „Sonnenallee“ verfilmte, dem poppigen, erfolgreichen Heimatfilm, der auf Ostalgie keineswegs verzichtete. Die war in den 90ern nicht zuletzt deshalb zu einem Massenphänomen geworden, weil die meisten Leute im Osten es irgendwann satt hatten, vom Westen permanent die Nichtsnutzigkeit ihres früheren Lebens vorgehalten zu bekommen. Von ihrer Heimat war in der öffentlichen Meinung nur eine Diktatur geblieben – mit Verbrechern oben und Mitläufern unten.

Auch Jörg Schüttauf kennt es anders: „Wer ständig erzählt, die DDR war ein einziges großes Zuchthaus, dem sage ich: Moment, es gab auch Party und Liebe, und man konnte im Übrigen auch mit SED-Genossen reden. Das waren doch nicht alles Idioten, sonst hätte sich das Land nicht 40 Jahre gehalten. Die meisten Leute hatten sich irgendwie ihren eigenen Frieden gemacht.“ So wie der LPG-Bauer Karli Schönstein, den er in „Liebesau“ spielt, oder wie der Titel komplett heißt: „Liebesau – die andere Heimat“. Denn genau darum geht es: um das andere Stück Deutschland, das seinen Bewohnern ebenfalls Heimatland war.

Die Zeit ist reif

Der Vierteiler gehört zu den ambitioniertesten ZDF-Projekten 2002, das erfreulicherweise kein deutsch-deutsches Jubiläumsjahr ist, womit der Film schon mal dem Kampagnenverdacht entgeht. Es gibt keinen offiziellen Anlass, ausgerechnet jetzt so eine ausführliche Ost-Geschichte ins Programm zu hieven. Warum es doch geschieht, ist einfach zu erklären: Die Zeit schien den TV-Gewaltigen bisher offenbar noch nicht reif – obwohl in Studien immer wieder die Unzufriedenheit der Ostdeutschen über die Wiedergabe ihrer Lebens- und Gefühlswelt im Fernsehen jenseits von MDR und ORB zum Ausdruck kam.

Inzwischen hat die DDR jedoch selbst im Westen als Skandal-Land abgewirtschaftet; aus der von allerlei ideologischem Ballast erschwerten Vergangenheitsaufarbeitung wird allmählich ein entspannter Vergangenheitsrückblick. „Liebesau“-Autor Peter Steinbach hätte gern schon viel früher über seine ostdeutsche Heimat geschrieben, die er 1954 Richtung Westen verließ. Aber der gebürtige Leipziger, der bereits das Drehbuch für Edgar Reitz’ westdeutsche „Heimat“-Saga (1984) und später die Drehbücher der ORB-Produktion „Der Laden“ verfasste, musste 20 Jahre darauf warten. „Es gab kein Interesse am Osten“, sagt er. „Mich haben sie beim Rundfunk und Fernsehen immer ausgelacht. Es gab da Redakteure, die meinten, ich hätte wieder ganz exotische Sachen zu erzählen.“

Als ihm die UFA anbot, von ostdeutschem Leben zu erzählen, willigte er sofort ein. So entstand die Geschichte vom fiktiven Dorf Liebesau im Bezirk Halle, wo Steinbach tatsächlich einst aufwuchs. Erzählt wird sie vor dem Hintergrund von vier wichtigen politischen Daten: dem 17. Juni 1953, dem Mauerbau 1961, dem 30. Jahrestag der DDR 1979 und dem Mauerfall 1989. Es geht um die Auswirkungen der großen Politik auf das Leben der so genannten kleinen Leute. Und weil die „Geschichte von zwei verschiedenen Völkern schwierig zu erzählen“ ist, hat Steinbach zwei Liebesgeschichten eingebaut. Die vom Landwirt Schorsch Schönstein (Martin Wuttke), der Hof und Familie verlassen hat, nach seiner Rückkehr aus dem Westen 1953 LPG-Vorsitzender wird und wieder um seine Frau kämpft. Und die zwischen seinem Sohn Karli und Greti Fechner (erst gespielt von Anna, dann von ihrer Mutter Katharina Thalbach), die als Tochter des letzten freien Landwirts in Liebesau mit ihrem Vater in den Westen geht und immer mal wieder zu Besuch kommt, weil die Liebe zu Karli („Du bist der Rest meiner Heimat“) sie treibt.

Abseits der Liebesgeschichten zeigt der Film vor allem, wie das Dorf von der neuen Staatsmacht zur „sozialistischen Heimat“ für ihre Bewohner umgestaltet wird. Und wirft die Frage auf: Wie viel kann Politik dem Heimatgefühl anhaben? „Wenn das persönliche Glück da ist, ist die Politik egal“, sagt Schorsch Schönstein zu seinem Sohn und drückt damit ein Empfinden aus, das kaum als alleiniges DDR-Bürger-Denken gelten kann. Dass es den Ostdeutschen nach der Wende zum Teil als Anpasslertum vorgehalten wurde, ändert daran nichts. Und wenn Gretis in Köln aufgewachsene Tochter bei ihrem Liebesau-Besuch 1989 zu ihrer Mutter den West-Klassiker sagt: „Wie kann man hier bloß geboren worden sein?“, liefert der Film als Ganzes die Antwort: Man wurde einfach – und hat zumeist versucht, das Beste daraus zu machen. Wer nicht gerade über genetisch bedingte Renitenz verfügte, der versuchte sich halt irgendwie einzurichten und genoss wenigstens jene Unbeschwertheit, die zur Entstehung der bekanntesten Nachwende-Binse „Es war nicht alles schlecht in der DDR“ führte.

Die Eskapaden von Volk und Funktionären beim Aufbau und späteren Herrschen der sozialistischen Gesellschaft in Liebesau erscheinen mal witzig, manchmal melancholisch und zuweilen überspitzt. Auf jeden Fall bekommt der Zuschauer eine Ahnung, wieso sich sowohl Akzeptanz als auch Ablehnung des Systems in der Bevölkerung gleichermaßen entwickeln konnten. Wie sehr das die westdeutschen Fernsehzuschauer interessiert, wird sich zeigen. Dass die vom ZDF aufgeworfene Heimatfrage Ost zumindest die Ostdeutschen sehr aufwühlen dürfte, deutete sich bei den Dreharbeiten an. Die zahlreichen aus der Ex-DDR stammenden Schauspieler, die allein schon zum Heimatgefühl in den östlichen Fernsehstuben beitragen dürften, fühlten sich von dem Stoff so stark berührt, dass es zu mancher Diskussion über eigene DDR-Erfahrungen kam. Die Statisten vom Drehort in Sachsen-Anhalt können mit dem Filmergebnis jedenfalls leben. Ihre Skepsis, als Ossis wieder mal bloß vorgeführt zu werden, ist nicht bestätigt worden.