„Fluchtalternative“ mit Folterrisiko

Tschetschenien ist ein Kriegsschauplatz. Flüchtlinge werden aber nicht nur in ihrer Heimat verfolgt, sondern in der gesamten Russischen Föderation. Trotzdem schiebt Berlin tschetschenische Asylbewerber nach Russland ab. Die haben jetzt ein „Tschetschenisches Solidaritätskomitee“ gegründet

von GESINE DORNBLÜTH

Zwölf Männer sitzen in dem Zimmer im Flüchtlingsheim, einige auf den Betten, andere auf dem Fußboden. Erst nächste Woche bekommt das „Tschetschenische Solidaritätskomitee“ einen Raum in der Müllerstraße. Aslan, einer der Sprecher, ist vor zwei Monaten aus Grosny gekommen. „Die Demokratie in Deutschland entstand auch erst nach viel Blut, Verlusten und Fehlern“, sagt der untersetzte, grauhaarige Mann. „Deshalb denken wir, dass Deutschland uns versteht. Wir können den Deutschen doch nicht gleichgültig sein.“

Etwa 200 tschetschenische Flüchtlinge leben in Berlin. Bis zum vergangenen Sommer wurde über die Asylanträge tschetschenischer Flüchtlinge aufgrund der unübersichtlichen Lage im Kriegsgebiet nicht entschieden. Seit dieser Entscheidungsstopp aufgehoben ist, erhalten immer mehr Tschetschenen Ablehnungsbescheide. Mindestens drei wurden nach Auskunft von amnesty international nach Moskau abgeschoben. Genauere Zahlen gibt es nicht, denn Tschetschenen werden offiziell als Russen geführt. Deswegen weiß auch niemand, wie viele Tschetschenen in Deutschland als politisch Verfolgte anerkannt werden. Von Januar bis November 2001 erhielten 72 von insgesamt 4.285 Antragstellern aus der Russischen Föderation Asyl. Die meisten dürften zwar Tschetschenen sein, doch gemessen an der Gesamtzahl sind das wenige. „Überall in unserem Bekanntenkreis gehen zurzeit Ablehnungsbescheide ein“, berichtet Aslan. „Wir haben Angst.“ Die Flüchtlinge sind überzeugt, dass ihnen nicht nur in Tschetschenien, sondern in ganz Russland Gefahr für ihr Leben droht, zumindest aber Gefängnis.

Da ist zum Beispiel Isar, ein blasser Mann mit rötlichen Haaren. Der Arzt wurde im ersten Tschetschenienkrieg bei einem Krankentransport aus nächster Nähe von russischen Soldaten beschossen und verwundet. Er floh nach Moskau, wo er in einem Krankenhaus arbeitete und sich politisch für Tschetschenien einsetzte. Daraufhin wurde er verhört und mit dem Tode bedroht. Sein Asylantrag wurde bereits zum zweiten Mal als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Jetzt wartet er auf die Abschiebung. „Ich betrachte diese Entscheidung als Todesurteil. Wenn ich könnte, würde ich auf den Mond fliegen.“ Der sonst zurückhaltende Mann redet sich in Rage. „Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin und was ich tun soll.“

Auch der 40-jährige Loma ist verzweifelt. Seine Wangen sind grau und eingefallen, die Augen schwirren hin und her. Als leitender Mitarbeiter im Fernmeldewesen verkehrte er in Grosnys Regierungsgebäuden und hatte Zugang zu wichtigen Informationen. 1996 schossen ihn Angehörige der russischen Miliz auf dem Heimweg von der Arbeit nieder. Die Narben von drei Einschusslöchern sind auf seinem Rücken noch zu sehen. Loma versteckte sich. Zwei Jahre später flohen er und seine Frau nach Deutschland. Ihr Asylantrag wurde vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge abgelehnt, die Klage liegt seit zweieinhalb Jahren beim Verwaltungsgericht Berlin. Lomas Anwalt, Christoph von Planta, hält Loma für politisch verfolgt. „Aber ich kann nichts weiter tun, als zu versuchen, die Klage weiter zu begründen. Und dann müssen wir warten.“

Loma versucht mitzuhelfen, liefert Beweismaterial nach. Zuletzt bekam er, per Post über den Umweg Inguschetien und Ukraine, zwei Schreiben aus Grosny. In dem einen bestätigt ein Angehöriger der Miliz von Grosny, dass er den Tatort, an dem Loma vor fünf Jahren niedergeschossen wurde, besichtigt hat. In dem anderen vermerkt die Staatsanwaltschaft, dass das Strafverfahren gegen die damaligen Täter eingestellt wurde, „weil kein Verbrechen vorlag“. Jetzt hat sich das Tschetschenische Solidaritätskomitee an amnesty international gewandt. Amnesty geht davon aus, dass sich die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Tschetschenen seit Herbst letzten Jahres noch einmal verschärft haben – und zwar in ganz Russland. Die Organisation befasst sich deshalb zurzeit verstärkt mit Tschetschenien. Sie hat eine Eilaktion zugunsten eines 24-jährigen Studenten gestartet, der bei Hannover in Abschiebehaft sitzt. Außerdem analysiert sie die Bescheide. Ein Zwischenergebnis steht schon fest: „Die Entscheidungen des Bundesamtes und der Verwaltungsgerichte sehen oft sehr allgemein aus. Es ist nicht erkennbar, ob ein Fall individuell geprüft wurde oder nicht“, berichtet Europareferentin Imke Dierssen. Selbst wenn Flüchtlinge konkrete Gründe angeben, die unmittelbar zu ihrer Flucht führten, gehe das Bundesamt in seinen Bescheiden darauf oft nicht ein. „Argumentiert wird, dass konkret nichts angesprochen worden sei. Dann kommt es zur Ablehnung.“ Das Bundesamt weist diese Vorwürfe zurück. „Die sorgfältige Einzelfallprüfung findet statt“, so die Auskunft des leitenden Regierungsdirektors Matthias Henning. Er befasst sich ohnehin gerade mit den Akten, denn die PDS-Fraktion im Bundestag hat eine kleine Anfrage zur Situation tschetschenischer Flüchtlinge in Deutschland gestellt. Wie die Antwort der Bundesregierung ausfallen wird, kann man sich denken.

Das Bundesamt stützt sich in seinen Entscheidungen vor allem auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes. Dort geht man davon aus, dass nur Tschetschenen verfolgt werden, die sich politisch betätigt haben. Alle übrigen Tschetschenen fänden irgendwo in Russland einen Platz, an dem sie ungestört leben können. „Innerstaatliche Fluchtalternative“ heißt das im Behördendeutsch. Amnesty international bezweifelt, dass es eine solche Alternative für die meisten Tschetschenen gibt. Eine ähnliche Position vertritt auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz. Beide berichten von willkürlichen Festnahmen, Folter und Misshandlungen von Tschetschenen in mehreren russischen Städten. „Leider dauert es lange, bis wir unsere Informationen so platziert haben, dass sie in den Asylverfahren berücksichtigt werden“, analysiert Dierssen.

Flüchtlingen wie Loma schlägt jeder Tag in Ungewissheit auf die Psyche. Ein Fernsehbericht des „heute journals“ über tschetschenische Flüchtlinge in Georgien regte ihn so auf, dass er mit einem Herzanfall ins Bundeswehrkrankenhaus eingeliefert werden musste. „Ich träume dauernd, wie ich verhaftet und in einem Auto weggebracht werde“, erzählt er. „Das Bild kehrt immer wieder. Vorgestern habe ich geträumt, wie ich meiner Frau helfe, Sprengstoff an ihrem Körper zu befestigen. Dann hat sie sich in die Luft gesprengt.“