Die Gefahr, Frau zu sein

Nicht männlich geboren zu werden, bedeutet in den meisten Teilen der Welt, ein minderes Leben vor sich zu haben. Auch im Westen gibt es noch viele Spuren jenes Systems, das Frauen erniedrigt: das Patriarchat

von VERENA KERN

Was ist die Frau? Rein phänomenologisch betrachtet, gehört sie zur Gattung Homo sapiens und stellt etwa die Hälfte der derzeit rund sechs Milliarden Menschen starken Weltpopulation. Aber ihre Zahl nimmt ab, während die der Gesamtbevölkerung weiterhin zunimmt. Heute gibt es bereits sechzig bis hundert Millionen Mädchen weniger als Jungen. Sie existieren nicht – oder nicht mehr, und zwar infolge selektiver Abtreibung, Kindsmord und systematischer Vernachlässigung. Das Recht zu leben wird ihnen genommen einzig und allein deshalb, weil sie weiblichen Geschlechts sind.

Die Überzeugung, Frauen seien weniger wert als Männer, ist so weit verbreitet, wie sie tief in der Geschichte der Menschheit wurzelt, und sie ist ganz offensichtlich schwieriger zu bekämpfen als etwa die Überzeugung, Schwarze seien weniger wert als Weiße. Sie ist das Kennzeichen streng patriarchalisch organisierter Gesellschaften, die die Frau nicht meinen, wenn sie vom Menschen sprechen, und Freiheit, Gleichheit, Aufklärung für eine westliche Erfindung halten, die mit ihrer eigenen Kultur nicht vereinbar sein kann.

Wollte man auf einer Weltkarte all jene Länder einzeichnen, in denen Frauen der Zugang zu Nahrung und medizinischer Versorgung erschwert wird, in denen sie als Arbeitstiere ausgebeutet, als Ware oder als bloßes Familienzubehör in männlichem Besitz gehandelt werden, man hätte sehr viel zu tun. Laut UN-Kinderhilfswerk Unicef ist Gewalt gegen Mädchen und Frauen die am meisten verbreitete Form der Menschenrechtsverletzung. Erst vor zehn Jahren haben die Vereinten Nationen Frauenrechte offiziell als Menschenrechte deklariert; seit vier Jahren gilt sexuelle Gewalt als „schwerer Verstoß“ gegen die Genfer Konvention.

Nach Angaben der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) stirbt jede Minute eine Frau an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt. Nur die Hälfte aller Geburten wird von Fachpersonal betreut. Auch die Verstümmelung der weiblichen Genitalien, die vor allem in Afrika, Asien und dem Mittleren Osten (Größenordnung: zwei Millionen Mädchen per annum) praktiziert wird, ist als Faktor zu sehen. Laut Unicef ist etwa im Sudan die Hälfte aller geburtsbedingten Todesfälle auf Genitalverstümmelung zurückzuführen. Die so genannte „weibliche Beschneidung“ erhöht zudem das Aidsrisiko; in Afrika sind inzwischen zwei Millionen mehr Frauen als Männer infiziert.

Nach Erhebungen der UNO und ihrer Unterorganisation ILO aus den Jahren 1980 und 1985 erzeugen Frauen achtzig Prozent der Weltnahrungsmittel, verrichten zwei Drittel der Weltarbeitsstunden, erhalten nach ILO-Angaben fünf Prozent und nach UNO-Angaben zehn Prozent des Welteinkommens und besitzen ein Prozent des Weltvermögens. Dass sich die Relationen in den vergangenen zwanzig Jahren zugunsten der Frauen verschoben hätten, ist weder bekannt noch anzunehmen.

Laut UN-Weltbevölkerungsbericht 2000 werden jährlich vier Millionen Frauen und Mädchen in Ehe, Prostitution und Sklaverei verkauft. Vor allem in Nordafrika, West- und Südasien kosten so genannte „Ehrenmorde“ durch Familienangehörige jedes Jahr fünftausend Frauen das Leben. Allein in Pakistan waren es 1999 tausend Frauen. In Indien werden jährlich fünftausend Mitgiftmorde registriert. Über Dunkelziffern liegen keine Angaben vor.

Die meisten Gewaltakte gegen Frauen finden im häuslichen Bereich statt. Nach dem von der Weltbank herausgegebenen Weltentwicklungsbericht von 1993 büßen Frauen im Alter zwischen 15 und 44 Jahren aufgrund von Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt mehr gesunde Lebensjahre ein als durch Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Fehlgeburten, Ungleichbehandlung in der Arbeitswelt, Krieg oder Autounfälle. Vor allem auf dem indischen Subkontinent, in Teilen Südasiens und Westafrika wird Männern das Recht zugestanden, ihre Frauen zu bestrafen, wenn sie dies für nötig halten. Widerrede im Gespräch, Unpünktlichkeit bei der Zubereitung von Mahlzeiten oder das Verlassen des Hauses ohne männliche Genehmigung werden als legitime Gründe angesehen.

Auch im islamischen Recht, das in rund fünfzig Ländern von Staats wegen herrscht, wird der Frau eine Gehorsamspflicht und dem Mann ein Züchtigungsrecht zugeordnet. Der Mann darf seine Frau schlagen, seine Nichten und andere weibliche Verwandten, der Bruder seine Schwester. Ob eine Frau ins Paradies kommen kann, hängt davon ab, ob ihr Mann mit ihr zufrieden war oder nicht. Dem Propheten werden die Worte in den Mund gelegt: „Ich stand am Tor des Paradieses. Da waren die meisten, die eintraten, Männer. Und ich stand am Tor der Hölle. Da waren die meisten, die eintraten, Frauen.“

Aber nicht der Islam ist das Problem. Es ist die patriarchale Kultur, auf der dieser, wie auch die meisten anderen Religionen, fußt und die weitaus älter ist als jener und auch weiter verbreitet. Auch Armut ist nicht das Problem, obwohl es zumeist die armen Länder sind, in denen sich Frauenunterdrückung besonders drastisch äußert. In Bangladesch etwa ist die Sterblichkeitsrate bei Mädchen um fünfzig Prozent höher als bei Jungen. In Afghanistan können laut Unicef 95 Prozent der weiblichen Bevölkerung weder lesen noch schreiben, im Jemen sind es laut Unesco 73 Prozent.

Einer ökonomischen Vernunft folgt die Unterdrückung der Frauen nicht. Sie geschieht nicht, weil die Länder arm sind, sondern sie sind arm, weil die Hälfte ihrer Bevölkerung unterdrückt ist. In ihrem Weltbevölkerungsbericht 2000 hat die UNO diesen Zusammenhang besonders herausgestellt und auf Studien verwiesen, wonach Investitionen in die Ausbildung und Gesundheit von Mädchen zu wirtschaftlichem Aufschwung und zu einer Steigerung der Lebenserwartung beider Geschlechter führen. Die Diskriminierung von Frauen, das ist die zentrale Botschaft, zieht enorme Kosten nach sich. Die Männer schaden sich unwillentlich selbst.

Doch rationale Argumente wie diese werden wenig ausrichten. Denn der einzelne Mann profitiert sehr wohl vom patriarchalen System. Erst in der Summe ergibt sich der volkswirtschaftliche Nachteil. Ohne Zwang, ohne Druck wird sich nichts ändern; ohne Geld auch nicht. Siebzehn Milliarden US-Dollar jährlich wären nach UN-Angaben nötig, um die Diskriminierung der Frau zu bekämpfen – dieselbe Summe, die pro Woche weltweit für Rüstung ausgegeben wird.

Hier kommen die westlichen Demokratien ins Spiel, jene Länder also, die sich auf den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit gründen und Frauen im Nachgang jahrhundertelanger Aufklärungsbemühungen als gleichwertige Rechtssubjekte zu begreifen gelernt haben. Schon aus Gründen der Selbstachtung sowie des nationalen Eigeninteresses müsste ihnen daran gelegen sein, die Unterdrückung der Frau weltweit zu bekämpfen. Doch weder hat sich „der Westen“ bislang darum gerissen, adäquate Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, noch kann er sich rühmen, seine eigenen patriarchalen Traditionen gänzlich hinter sich gelassen zu haben.

In der Bundesrepublik beispielsweise können Frauen seit dreißig Jahren erwerbstätig sein, ohne dafür die Erlaubnis ihres Ehemannes vorlegen zu müssen. Allerdings erhalten sie bis heute weniger Geld für gleiche oder gleichwertige Arbeit. Laut Statistischem Bundesamt verdienen vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer in Industrie, Handel und bei Banken durchschnittlich 2.904 Euro, Arbeitnehmerinnen hingegen lediglich 2.294 Euro, also nur 79 Prozent des Männereinkommens. Bei den ArbeiterInnen ist die Relation ähnlich.

Während es längst Konsens ist, in den niedrigeren Löhnen in Ostdeutschland einen Skandal zu sehen, wird die generell niedrigere Entlohnung von Frauen wie ein Naturgesetz hingenommen. Genauso wie die Tatsache, dass die Erwerbstätigen zu 43 Prozent Frauen sind, die Arbeitslosen aber zu 47 Prozent. Dass nur ein Viertel aller Betriebsratsmitglieder weiblich ist. Dass nur 3,7 Prozent der erwerbstätigen Frauen Führungspositionen innehaben. Dass in jenen Branchen, in denen die Entlohnung niedrig und die Arbeit schwer ist, auffällig viele Frauen arbeiten. Dass nicht einmal zwei Prozent aller Männer Erziehungsurlaub nehmen und genau dann am meisten Überstunden machen, wenn das erste Kind gekommen ist (von fehlenden Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen gar nicht erst zu reden).

Oder dass dem Spiegel in einer Titelgeschichte über Saudi-Arabien die (bedrückende) Situation der Frauen nur zwei Absätze wert ist und in einer dreiseitigen Reportage aus Afghanistan die Frauen erst gar nicht auftauchen. Dass eine wachsende Zahl von Frauen in der Bundesrepublik gar nicht mehr zur Wahl geht – weil sie ihre Lebensumstände in der Politik zu wenig berücksichtigt finden.

Gleichstellung der Geschlechter, Entwicklung und Frieden hängen zusammen, behaupten die Vereinten Nationen. Wer würde da widersprechen?

VERENA KERN, 37, ist taz.mag-Redakteurin